Buchbesprechung: Der Umfall – „In andere Realitäten schlüpfen“

Mikael Ross spricht im Interview über die Recherche zu seiner herausragenden Comic-Erzählung „Der Umfall“ und die mediale Darstellung von Menschen mit Beeinträchtigung. Mit Mikael Ross sprach Filip Kolek.

Filip Kolek: Herr Ross, viele Leser werden sie noch nicht kennen. Können sie uns etwas über sich und ihren Werdegang verraten?

Mikael Ross: Ich zeichne seit ich denken kann, und von Comics war ich von Anfang an begeistert. Aber der Weg zum Comiczeichner, der war dann doch ein längerer und über viele glückliche Umwege. Ich habe eine Ausbildung zum Theaterschneider absolviert, an verschiedenen Opernhäusern gearbeitet und bin dann von München nach Berlin gezogen, um Mode zu studieren. Comiczeichnen habe ich immer nach Feierabend, als Hobby, betrieben. Bis es dann zu einem Auslandsjahr in Brüssel gekommen ist. Dort im Fachbereich Bande dessinée ist mir dann klar geworden, dass Comics in meinem Leben einen wichtigeren Platz als ein Hobby einnehmen müssen.

Filip Kolek: „Der Umfall“ entstand im Auftrag mit der Evangelischen Stiftung Neuerkerode aus Niedersachsen, die dieses Jahr ihr 150jähriges Bestehen feiert. Können Sie uns etwas über die Stiftung und ihre Arbeit erzählen?

Es ist eine Stiftung, die ursprünglich aus dem privaten Engagement eines Pastors und einer reichen Dame entstanden ist. Beiden war es ein Anliegen, etwas gegen die zunehmende Verwahrlosung von Menschen mit Behinderung auf dem Land zu tun. Die Stiftung hat eine sehr wechselhafte Geschichte. Eine Konstante, die man der Neuerkeroder Chronik entnehmen kann, ist aber der nie endende Streit um Geld für die Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung. Auch heute ist die Existenz von Neuerkerode keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Es leben und arbeiten etwa 800 Menschen mit einer geistigen und/oder körperlichen Behinderung in Neuerkerode, ungefähr noch einmal so viele Menschen sind dort Arbeitnehmer. Was Neuerkerode meiner Meinung nach so besonders macht, ist die dörfliche Struktur, die einen sehr anderen Charme hat.

Filip Kolek: Können Sie uns auch etwas über ihre Recherche vor Ort erzählen?

Ich war über zwei Jahre immer wieder in Neuerkerode, meistens drei bis vier Tage am Stück, manchmal länger. Ich habe mich dort einfach treiben lassen, gewartet bis jemand von selbst zu mir gekommen ist, um mir seine Geschichte zu erzählen. So haben sich Stück für Stück Details und Storys angesammelt. Es war von meiner Seite eher ein passiver Prozess. Wie ein Schwamm, der sich vollsaugt, vielleicht…

Filip Kolek: Die Entstehungsgeschichte und das Thema von „Der Umfall“ würden nahelegen, dass man als fertiges Buch eine Reportage/Dokumentation in den Händen halten wird, aber dem ist gar nicht so. Sie erzählen eine fiktive Geschichte – ihr Protagonist Noel ist kein realer Bewohner von Neuerkerode, sondern ausgedacht. War es ihnen von Anfang an klar, dass sie eine fiktive Geschichte erzählen würden?

Eine Reportage eignet sich gut für die Präsentation von nüchternen Fakten. Aber der Zauber von Neuerkerode entzieht sich dieser Art von objektiver Betrachtung. Der fiktionale Ansatz hat den Vorteil, dass ich bedenkenlos alles dort Erlebte zu einer Geschichte verweben konnte – egal, ob die Erzählungen zu ganz anderen Menschen gehörten. Mein Anspruch ist ein Kondensat der Realität. Deshalb habe ich Menschen erschaffen, die es im realen Neuerkerode so nicht gibt, ihnen aber Charaktermerkmale und Details eingeschrieben, die mir während meiner Recherche vor Ort begegnet sind.

Filip Kolek: „Der Umfall“ ist aus der Perspektive Noels erzählt – inklusive Gedankenkästen, in denen wir seine innere Stimme lesen können. Wie sind sie vorgegangen, um seine Stimme und die der anderen Bewohner Neuerkerodes so authentisch wie möglich darzustellen und Klischees zu vermeiden?

Ja, die Sorge war natürlich da. Aber die fast vollständige Abwesenheit von interessanten, runden Charakteren mit einer geistigen Behinderung in unserer Medienwelt macht mir mehr Sorgen. Denn eine Geschichte bietet ja die Möglichkeit, auch einmal in eine andere Lebensrealität zu schlüpfen, und im besten Falle zu erkennen, dass die Gemeinsamkeiten die Unterschiede überwiegen. Und wenn Geschichten von Menschen mit geistiger Behinderung nicht erzählt werden, aus Angst, etwas falsch zu machen, dann geht diese Möglichkeit der Kommunikation verloren

Filip Kolek: Wie empfinden sie die mediale Darstellung und Wahrnehmung von Menschen mit Beeinträchtigung im allgemeinen – vor allem in fiktiven Werken?

Ich finde, wenn jemand es tatsächlich wagt diese Geschichten zu erzählen, es sehr oft mit großer Sensibilität getan wird. Das Problem ist eher, dass diese Geschichten immer noch zu wenig erzählt werden und es noch immer viele Tabus gibt. Meine Hoffnung ist, es so gut zu machen wie ich mit meiner eigenen Beschränkung machen kann. Aber es gab da schon auch ein neidisches/bewunderndes Auge auf „The Curious Incident of the Dog at Night Time“ von Mark Haddon, und „Die Entdeckung der Langsamkeit” von Sten Nadolny. Wenn ich irgendwo nahe an die beiden herankomme, bin ich schon sehr zufrieden.

INFOS: In Niedersachsen befindet sich die von einer Stiftung geleitete Gemeinde Neuerkerode. In dem kleinen Ort leben über 800 Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und über 1000 StiftungsmitarbeiterInnen – ein eigenes kleines Universum, in das Mikael Ross für zwei Jahre eintauchen durfte. Herausgekommen ist eine berührende Erzählung – geschildert komplett aus der Sicht von Noel. DER UMFALL erzählt von Noels erstem Jahr in Neuerkerode, nach dem Schlaganfall seiner Mutter kommt er in eine Betreuungseinrichtung in Neurekerode, die er nur sehr widestrebend als sein neues Zuhause akzeptiert. ISBN 978-3-945034-94-1, Hardcover, 128 Seiten farbig, 28 Euro.

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