Eigenbedarfskündigung – Kann die Behinderung vor Räumung schützen?

Grundsätzlich besteht in Deutschland die Möglichkeit, das Mietverhältnis durch ordentliche Kündigung in bestimmten Fällen zu beenden. Die Voraussetzungen einer solchen Kündigung sind überwiegend in § 573 BGB geregelt. Erforderlich ist stets, dass der Vermieter ein berechtigtes Interesse daran hat, den Vertrag mit dem Mieter einem Ende zuzuführen.

In Abs. 2 des § 573 BGB werden besondere Fallkonstellationen beschrieben, in denen ein solches Interesse anzunehmen ist. Am häufigsten geht es in der Praxis um den Fall, dass die Wohnung von dem Vermieter selbst, seinen Familienangehörigen oder seinen Haushaltsangehörigen benötigt wird.
Der ordentlichen Kündigung ist stets die Belehrung beizufügen, dass der Mieter gegen diese Widerspruch erheben kann. In dem Widerspruch ist darzulegen, warum die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter eine besondere Härte darstellt. Die Gerichte prüfen zunächst, ob der Eigenbedarf überhaupt besteht. Dieser darf nicht nur „ins Blaue“ behauptet werden, um den Mieter „loszuwerden“ und die Wohnung anschließend leerstehend teuer verkaufen zu können. Ist tatsächlich ein eindeutiger Nutzungswunsch des Vermieters oder der oben beschriebenen Personen gegeben, wird in einem zweiten Schritt geprüft, ob das Mietverhältnis trotz der eigentlich bestehenden Eigenbedarfssituation wegen einer nicht zu rechtfertigenden Härte für den Mieter aufrechtzuerhalten ist.

An dieser Stelle kann nun die Behinderung oder das hohe Alter von Mietern in der zivilrechtlichen Praxis eine Rolle spielen. Doch nicht jede Behinderung stellt eine Härte im Sinne der Vorschrift des § 574 dar. Vielmehr kommt es in dieser Fallkonstellation zunächst auf die Frage an, ob zwischen der Behinderung und dem damit verbundenen gesundheitlichen Zustand einerseits und der Wohnsituation andererseits ein eindeutiger Zusammenhang besteht. Dieser ist beispielsweise bei seelischen oder geistigen Behinderungen gegeben, welche das Orientierungsvermögen beschränken. Hier kann argumentiert werden, dass der Mieter oder dessen Angehörige mit einer entsprechenden Behinderung sich an das Wohnumfeld besonders gewöhnt haben, bestimmte Fahrstrecken selbstständig beherrschen, bestimmte Läden in unmittelbarer Nähe der Wohnung selbstständig aufgesucht werden können und dieses nach einem Umzug nicht mehr möglich sei. Eine unzumutbare Härte kann aber auch darin gesehen werden, dass sich der Umzug des Mieters mit einer Behinderung auf dessen gesundheitlichen Zustand mit großer Wahrscheinlichkeit negativ auswirkt.

In diesem Zusammenhang soll eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs in Berlin aus dem Jahre 2010 vorgestellt werden. In diesem Fall ging es um eine Vier-Zimmer-Wohnung im Untergeschoss und Erdgeschoss eines in Berlin gelegenen Mehrfamilienhauses. Die Vermieterin hatte die Wohnung im Zwangsversteigerungsverfahren erworben und kündigte das Mietverhältnis wegen Eigenbedarf. Sie beabsichtigte nachweislich die Wohnung für sich, ihren Ehemann und ihren Sohn zum Wohnen aber auch für ihre selbstständige Tätigkeit und die ihres Ehemanns zu nutzen. Zu dieser Zeit bewohnte sie mit ihrer Familie eine Drei-Zimmer-Wohnung in Berlin, welche ebenfalls privat und gewerblich genutzt wurde.

Bereits im Jahre 1968 wurde bei der Mieterin Multiple Sklerose festgestellt. Im Jahre 2006, als sie die Eigenbedarfskündigung erhielt, war die Behinderung bereits weit fortgeschritten. Die Mieterin saß in einem Rollstuhl. Es bestanden hochgradige spastische Lähmungen aller vier Extremitäten. Zudem war die Sehfähigkeit beeinträchtigt. Der Grad der Behinderung war mit 100 % angesetzt und die Pflegestufe III anerkannt. Der Lebensgefährte der Mieterin, welcher zugleich auch Pflegeleistungen übernahm, nutzte das Untergeschoss der in Streit stehenden Wohnung, wohingegen die Mieterin das Erdgeschoss bewohnte. Dieses war rollstuhlgerecht umgebaut worden.

Das Amtsgericht Schöneberg sowie das Landgericht Berlin gaben der Klage der Vermieterin auf Räumung der streitgegenständlichen Wohnung statt. Die Mieterin wandte sich daher an den Verfassungsgerichtshof Berlin. Dieser hob das Urteil der Berufungsinstanz auf und verwies den Rechtsstreit an eine andere Abteilung des Landgerichts Berlin. Zur Begründung führte der Verfassungsgerichtshof Berlin aus, dass ein Verstoß gegen das Willkürverbot gegeben sei. Das Landgericht Berlin dürfe eine Fortsetzung des Mietverhältnisses in diesem Fall nicht mit der Begründung verneinen, die Mieterin werde durch den notwendigen Wohnungswechsel nicht nachhaltiger getroffen als andere Personen. Diese Wertung und die darauf gestützte Folgerung, sich nicht auf eine soziale Härte im Sinne des § 574 BGB berufen zu können, seien in zweifacher Hinsicht objektiv willkürlich.

Einerseits habe das Landgericht Berlin die Behandlung des Sachverständigengutachtens im Zivilprozess verkannt. Es müsse die ärztliche Betrachtungsweise, welche im Gutachten dargelegt ist, in den Entscheidungsprozess mit einbeziehen. Hierzu führte der Verfassungsgerichtshof Berlin aus:

„Soll ein Sachverständiger aus dem Gebiet der Medizin wie im vorliegenden Fall die Frage beantworten, ob bestimmte Umstände geeignet sind, sich negativ auf den Gesundheitszustand einer Person auszuwirken, so besteht seine Aufgabe nicht allein in der Beschreibung eines bestimmten wissenschaftlichen Forschungsstandes, sondern vielmehr in der umfassenden ärztlichen Bewertung eines konkreten Sachverhalts aufgrund aller ihm zugänglichen Erkenntnisquellen seines Fachgebiets. Zu diesen Erkenntnisquellen zählen bei einem medizinischen Sachverständigen nicht nur wissenschaftliche Studien, sondern auch und ganz besonders praktische ärztliche Erfahrungen. Dies gilt umso mehr, wenn – wie hier – bereits nach dem Beweisbeschluss nicht allein der voraussichtliche Verlauf einer bestimmten Erkrankung, sondern vielmehr die Gesamtentwicklung des Gesundheitszustands beurteilt werden soll.“

Ein weiterer Willkürverstoß sei in dem Umstand zu sehen, dass das Landgericht Berlin die berechtigten Interessen der Vermieterin auf Nutzung der in ihrem Eigentum stehenden Wohnung mit den Härtegründen der Mieterin nicht abgewogen habe. Im Hinblick auf die Schwere der Behinderung hätte das Landgericht Berlin die besonderen Erschwernisse eines Umzugs der Mieterin gegenüber dem Nachteil der Vermieterin abwägen müssen. Eine solche Abwägung sei unterblieben, obwohl sie vorgeschrieben sei.

Die Autorin: Dr. Stephanie Claire Weckesser ist Rechtsanwältin in Berlin. Sie ist überwiegend im Miet-, Wohnungseigentums- und Immobilienrecht tätig. Weitere Tätigkeitsfelder sind Feststellungsverfahren nach dem SGB IX, Verfahren zur Erlangung von Erwerbsunfähigkeitsrente sowie Einstufung in die Pflegeversicherung. Infos unter: www.scweckesser.net.

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