„Ist der Zug schon abgefahren“
Gewinner des Schreibwettbewerb der „WIR“-Redaktion stehen fest: Die Redaktion des „WIR“-Magazins der Fürst Donnersmarck-Stiftung hatte einen Schreibwettbewerb mit dem Thema „Ist der Zug schon abgefahren“ ausgeschrieben. Nunmehr stehen die Gewinner fest. Da die Berliner Behindertenzeitung Medienpartner des Schreibwettbewerbs und auch in der Jury vertreten war, dürfen wir den Gewinnertext und den Gewinnertext des Sonderpreises abdrucken. Die Texte, die auf Platz 2 („Der Enkeltrick“, von Herbert Feid) und Platz 3 landeten („Kajaltränen“ von Oliver Fahlenbach), können auf der Internetseite der Berliner Behindertenzeitung gelesen werden.
Die Jury des Schreibwettbewerbs zeigt das obige Aufmacherbild (v.l.n.r.): Dominik Peter (Chefredakteur Berliner Behindertenzeitung), Renate Zimmermann und Anna Koch (WIR-Redaktion).
1.Platz: Ingeborg Woitsch
Der Streckenläufer
Diese Erde, er liebt sie seine Erde, dunkel und schwer wirft sie sich auf, hier, weit weg von aller Welt. Oktobererde, Wintererde. Er kniet und gräbt sich mit beiden Händen hinein, große, starke Hände, steht auf und hebt sie hinauf, die dunkle Schicht gegen das Herbstlicht, riecht an ihr, atmet sie, zerreibt sie mit breiten Fingerspitzen und lässt sie wieder zurückrieseln wie einen erdigen Bach.
So begrüßt er mich immer. Er nennt mich nur „du“. Er weiß nicht, wer ich bin, aber er liebt mich wie eine, die immer dagewesen ist. Ein weiter Himmel steht über seinem Haus, Wind streicht durch seinen Garten. Ich sehe ihn nicht anders, auch, wenn ich nicht dort bin, sehe ich ihn dastehen, draußen in seinem Garten, der bald ein Feld ist, zwei Ziegen und ein Esel gehören dazu. Er ist der alte Vater einer Freundin, die nicht viel mit ihm anfangen kann. Der übriggebliebene wirre Alte. Er glaubt es nicht, dass er achtzig Jahre alt sein soll. „Achtzig?“, er schüttelt den Kopf und lacht ungläubig. Ein stummer missgelaunter Patriarch sei er ein Leben lang gewesen. In ihrem Leben. Meine Freundin mag ihren Alten nicht. Einmal auf einer Durchreise habe ich ihn das erste Mal gesehen, und wer weiß schon, warum einem einer das Herz anrührt und dann war er einfach ein wortloser Freund, so einer, den man im Sterben nicht allein lässt.
Und früher? Ein Bauer war er nicht. Streckenläufer war er, als alles noch anders war. Und jetzt? Jetzt dreht er sich um, die Freude zieht durch sein Gesicht wie ein helles Wetter, seine Hände sind voller Erde und Leben, so winkt er hinein in die Stube, wenn er mich von der Straße kommend sieht mit Laptoptasche und Handgepäck, in die Stube, wo er jetzt alleine lebt.
Ich komme vorbei alle Monate lang. Auf meinen Geschäftsreisen seit fünf Jahren lege ich hier einen Halt ein. Und ich denke an ihn immer einmal und bete, dass es ihm gut gehen möge, einfach, weil ich ihn mag, diesen Alten, der mein Vater sein könnte, es aber nicht ist – Gott sei Dank. Er nennt mich nur ´du` und weiß meinen Namen nicht und die seinen erkennt er nicht mehr. Komisch, dass er immer genau weiß, wenn ich komme, dass ich es bin? Als wäre ich jetzt, wo er alt ist und die Welt ihm fremd und undurchschaubar wird, die Richtige.
Das Hausen, wie er sagt, hat er gelernt. Seit Kindesbeinen an weiß er, wie man alleine leben kann. Holzschlagen, Ziegenmelken, der Garten, er kann es noch – ich kann es nicht. Ich lebe in Hotelzimmern, chatte in Cafés und sitze im Büro. Über der Stube ist ein kleines Haus. Es liegt am Bahndamm. Es gab eine lange Zeit, in der er hier nicht alleine war. Er ist einer, der weiterlebt, ein Streckenläufer, auch wenn die Kinder fremd sind und einem der Tod das Weib weggerissen hat.
Er winkt hinein in die Stube, geht voran, setzt einen Topf Wasser auf den Herd. Dann eilt er davon mit in die Luft gestreckten schwarzen Händen. Aus dem Baderaum höre ich dann Wasserlaufen und Bürstenschrubben und diese fremden hohlen Laute, wie ein Stöhnen. Ich schaue herum in der alten Küche, es steht alles an seinem Platz.
Dann steht er da mit diesem Gesicht, in das ein Lachen und ein Weinen zugleich geschrieben sind. Hilflos, plötzlich steht er da. Und ich deute auf den Topf, der brodelnd große Blasen wirft. Wieder dieses überraschte Glucksen in ihm. Er brüht Kaffee auf, nie trinke ich Kaffee, nur hier, schiebt zwei Tassen auf den Tisch, den ein braun kariertes Wachstuch bedeckt. Jetzt sitzen wir da, in dieser alten Welt und schauen uns an, aus einer fremd vertrauten Entfernung. Er zieht einen kleinen Schreibblock und Kugelschreiber aus der Tischschublade und ich schreibe ihm auf, was ich ihm sagen will. „Brauchst Du etwas? – Was ist mit Deinem Fuß?“ Er liest es aufmerksam, denn hören kann er kaum mehr, ich kann es nicht genau feststellen, aber ich glaube, mein alter Freund ist fast taub.
Zuerst wollte ich sein Leben aufschreiben. Wie man immer etwas Sinnvolles tun und festhalten will. Jetzt bin ich einfach nur da, schaue aus dem Fenster, hole etwas aus der Apotheke im Dorf, Anglerzeug, Waschpulver, einen Ring Schwarzwurst, Salz, Rasierklingen. Er spricht komisch, die Sprache wird ihm fremd. Es ist nicht wirklich die Sprache, über die wir uns verstehen, sie ist ein Vehikel aus Ersatzteilen, nicht wirklich zuverlässig. „Der Alte muss ins Heim“, sagt meine Freundin.
Er will nicht, er sagt, es wird alles richtig sein. Ich glaube auch, dass es richtig sein wird. Und, dass ich vielleicht da sein werde oder irgendeiner vom Himmel geschickt da sein wird, wenn es soweit ist. „Es überkommt einen“, sagt er auf meine Frage, ob er den Tod fürchte. „Nein, es überkommt einen und der Herrgott fügt es“. Er hat nicht unsere Angst vor dem Sterben und ich habe sie auch nicht. „Der Alte muss ins Heim!“, sagt meine Freundin.
„Nein“, werfe ich ihr laut hin, ich mag meine Freundin, aber „ich sage ihm nicht, dass es für ihn das Beste wäre“. Auf sie höre er nicht, der alte Sturkopf, der ewige Eigenbrötler. Sie hat natürlich Recht, denn lang wird es so nicht mehr gehen. Wenn nur der Himmel alles fügt, denke ich und bete für ihn aus 300 km Entfernung.
Er finde das, was ich mache gut, sagt er einmal unvermittelt, als er am Fenster steht und über irgendetwas nachdenkt. So dringend ist es ihm, dass er es aufgeregt wiederholt, ja das, was ich mache, finde er gut. Und ich weiß gar nicht, wer mein Leben je so bestätigt hätte. „Das, was ich mache“. Dabei weiß er nichts von mir, er fragt nicht und kann es nicht fassen, wenn ich erzähle und Zettel schreibe: Die Stadt, in der ich lebe, meine Arbeit mit Texten, – es passt nicht mehr in sein mögliches Bild – dennoch sei es gut.
Manchmal fürchte ich mich vor dem Moment, in dem er mich nicht mehr erkennen wird. Wenn ich ans Gartentor käme, und es muss ja eines Tages so kommen, wenn ich also schon am Gartentor stehe und er auf mich zukommt mit langsamen Schritten und einem Misstrauen im Gesicht oder einer blinden Abwesenheit, stumm und fragt: „Was wollen Sie hier?“ – Ich habe Angst vor dieser Fremdheit, in der alles vergessen scheint. Und ich habe Angst vor mir, wie viel Freundschaft in mir für den dann Fremden noch bestehen bleibt.
Ingeborg Woitsch, 55 Jahre für „Der Streckenläufer“
Ingeborg Woitsch, die Gewinnerin des WIR-Schreibwettbewerbs, ist Redakteurin und Poesie- und Bibliotherapeutin. Das „Schreiben als Heilmittel“ ist zentrales Thema Ihrer Aktivitäten, u.a. für die Zeitschrift PUNKT UND KREIS und in dessen therapeutischen Projekt „Mittelpunkt-Schreibwerkstätten“ für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Zwischendurch findet sie die Zeit, selber Kurzgeschichten und Prosa zu schreiben. 2004 gewann sie den „Wiener Werkstattpreis für Literatur“.
Ein Arbeitskollege aus der Behindertenhilfe machte Ingeborg Woitsch auf den Wettbewerb des WIR-Magazins aufmerksam. Mit der Kurzgeschichte „Der Streckenläufer“ belegte sie hier den 1. Platz. Der Beitrag handelt von Demenz. „Der Streckenläufer erzählt ein konkretes autobiografisches Erlebnis, was mich sehr bewegt hat“, erzählt Ingeborg Woitsch der WIR-Redaktion. Jahrelang besuchte sie den Vater einer Freundin und erlebte seinen Prozess der fortschreitenden Demenz mit. „Ich bin ‚Du‘, so nannte mich der Vater meiner Freundin, wir kannten uns eigentlich nicht, dennoch waren wir uns nahe“, erklärt sie. Die Geschichte dieser Nähe, dieser ungewöhnlichen Freundschaft ist Ingeborg Woitsch Antwort auf die Frage „Ist der Zug schon abgefahren“ . Informationen zu weiteren Werken von Ingeborg Woitsch finden sich auf Ihrer Internetseite www.ingeborgwoitsch.de
Sonderpreis: Bianca Körner
Der Zug ist abgefahren
Der Zug ist abgefahren,
sagst du.
Und, dass es vorbei ist,
sagst du.
Du und ich,
das ist vorbei,
sagst du.
Ich schau dich an,
schau an dir vorbei.
Vorbei,
sagst du.
Ein Zug, der abgefahren ist,
sagst du.
Ein Zug,
wohin,
denk ich.
Ein Zug,
woher.
Vorbei,
frag ich.
Hier ist kein Zug vorbeigefahren,
denk ich.
Keine Ankunft, keine Abfahrt.
Vorbei,
sagst du.
Eine Abfuhr,
denk ich.
Der Zug ist abgefahren.
Der Zug ist abgefahren
und wir sitzen beide nicht drin.
Unser Zug ist abgefahren,
noch sitzen wir beide am Gleis.
Unser Zug ist abgefahren,
Lass uns doch den nächsten nehmen.
Keinen Schnellzug, nur den Regio.
Oder den Schienenersatzverkehr.
Lass uns langsam fahren,
sehen wo es lang geht.
Lass uns den nächsten Zug nehmen
und aussteigen
an jedem kleinsten Kaffbahnhof.
Lass uns an jedem kleinsten Kaffbahnhof entscheiden,
ob wir wieder einsteigen,
zusammen oder allein.
Ob wir wieder zurückfahren,
zusammen oder allein.
Lass uns an jedem kleinsten Kaffbahnhof entscheiden,
ob unsere Reise weitergeht.
Lass unsere Reise weitergehen.
Wir sind am Zug.
Der Zug ist abgefahren,
aber es ist nicht unserer.
Der Zug ist abgefahren,
sagst du.
Lass uns den nächsten nehmen,
sag ich.
Sonderpreis für Bianca Körner, 27 Jahre für „Der Zug ist abgefahren“
Seit ihrer Grundschulzeit schreibt Bianca Körner Gedichte. Mit 17 Jahren zählt sie zu den „Vielschreiber-Poeten“, einer Rubrik in der Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel“. Auch zehn Jahre später gehört Poesie zu ihrem Leben, verarbeitet die junge Poetin Gedanken zu Gedichten. Vom WIR-Schreibwettbewerb erfuhr sie aus dem Internet. Da in der Ausschreibung neben Prosa Gedichte ausdrücklich erwünscht waren, nahm Bianca Körner das Thema „Ist der Zug schon abgefahren“ und formte es zu einem Gedicht. Bei siebzehn von den 77 Einsendungen zum WIR-Schreibwettbewerb handelte es sich um Gedichte. Bianca Körners Beitrag gefiel der Jury so gut, dass sie ihr Gedicht mit einem Sonderpreis auszeichnete.
2. Platz – Herbert Feid
Tile Kolup
Karl Hartmann fasste sich immer öfters an die Stirn, aber körperlich war er mit seinen 89 Jahren noch recht fit. Die zwei Treppen bis zu seiner Wohnung schaffte er mit Leichtigkeit. Nur im Kopf war manchmal einiges durcheinander. Aber Jahreszahlen waren dem ehemaligen Studienrat für Geschichte fest verankert, wie 1194 bis 1250, die Lebensjahre seines Lieblingskaisers Friedrich II. Sonst war der Zug für ihn abgefahren, seitdem seine Frau vor zehn Jahren verstorben war und ihn in der viel zu großen Wohnung zurückgelassen hatte, wie in einem leeren Wartesaal. Und dann, als er frühstücken wollte, richtig Hunger verspürte und sah, dass auf dem Teller Krümel lagen, die Tasse ausgetrunken war und am Messer noch Reste von Marmelade klebten, da bekam er einen Schreck und zitterte. War es schon soweit? Inzwischen kam ein Mal in der Woche eine Frau von der Caritas. Sie besorgte ihm die Wäsche und putzte durch die Wohnung. Ihren Namen konnte er sich nicht merken. Er ärgerte sich darüber, suchte in den Unterlagen nach, schrieb ihn sich auf und vergaß den Zettel.
Das Telefonat kam so unvermittelt die der berühmte Blitz aus heiterem Himmel.
„Hallo Opa, ich bin’s! Wie geht’s dir?“ Eine helle freundliche Stimme. Hier bleiernes Schweigen. Opa? Also, mein Enkel? Etwa Thomas Sohn? Karl wusste nicht weiter, rieb sich die Stirn. Er freute sich, dass er sofort auf den Namen seines Sohnes gekommen war, der vor vielen Jahren nach Australien verschwunden war. Hatte der einen Sohn? Oder nicht eine Tochter? Karl fühle sich schlecht.
„Wie geht es deinem Vater?“ Karls Stimme zitterte. Wie hießen nur die Kinder von Thomas. Hatte er zwei? Alles Kopfkratzen half nichts. Er hasste es, so alt geworden zu sein, und nicht mehr die Namen seiner Enkelkinder erinnern zu können. Was ist das für ein Leben!
„Du, ich bin grad in Frankfurt gelandet und sofort bestohlen worden. Kannst du mir mit etwas Geld aushelfen?“ Karl verstand nicht mit wem er sprach und fühlte sich in die Enge getrieben. Natürlich würde er seinem Enkel helfen, wenn er nur hier in Berlin wäre und nicht so weit weg in Frankfurt.
„Wieviel brauchst du denn?“, brachte Karl grad noch so heraus, während er sich seinen Kopf zermarterte, wie der Junge heißen könnte.
„Das ist total nett von dir, Opa. Wieviel kannst du in zwei, drei Stunden auftreiben?“
„Ich weiß nicht, tausend Euro oder so, oder brauchst du mehr?“ Karl überlegte krampfhaft, wie er seinen Enkel dazu bringen könnte, seinen Namen zu nenne. Hatte nicht Thomas bei seinem letzten Telefonat etwas über seine Kinder gesagt? Karl konnte sich an nichts erinnern. Er musste sein grausames Schicksal hinnehmen. Dann rang er sich durch.
„Wie war dein Name noch einmal?“ Für Sekunden Schweigen auf der anderen Seite, dann wieder die helle Stimme.
„Na, hör mal, Opa. Du hast meinen Namen vergessen? Das ist ja allerhand. Du, ich bin jetzt in Druck, brauche dringend Geld, besorg so viel du kannst, wenigstens ein paar tausend. In drei Stunden kommt mein Kumpel vorbei, holt das Geld ab und bringt es mir nach Frankfurt. Gib ihm auch deine Kontonummer und Geheimzahl mit, damit Daddy dir das Geld sofort überweisen kann. Ich muss jetzt Schluss machen, bitte hilf mir! Ich vertraue dir!“ Es knackte, dann war die Verbindung tot. Karl war wieder allein. Er hörte sein Herz schlagen. Endlich war Leben in sein tägliches Einerlei gekommen. Es war, als ob nach langer Zeit wieder ein Zug in den Bahnhof einfährt. In freudiger Erregung machte er sich für den Besuch in seiner Bank fertig. Es dauerte ewig, bis der die Unterlagen finden konnte, aber die Tatsache, dass er jetzt für seinen Enkel zu sorgen hatte, brachten seine müden Gehirnzellen allmählich auf Trab.
Auf dem Girokonto waren noch genau 680,45 Euro, die könnte er seinem Enkel sofort geben, denn bald würde wieder seine Pension eingezahlt werden, und ein paar Euro hatte er ja auch immer noch als Reserve zuhause. Gerade als er zufrieden und glücklich mit sich und der Welt war und sich auf den Weg machen wollte, fiel ihm ein, dass – ja wie war denn nur sein Name – von einigen tausend Euro gesprochen hatte. Im Nu verflog sein Glücksrausch. Wieso konnte er sich nicht mehr an seinen Enkel erinnern? Was hatte ihm sein Sohn von den Kindern erzählt? Zweimal im Jahr telefonierte sein Sohn mit ihm, zu Weihnachten und zum Geburtstag, aber hatte er wirklich zum 89. gratuliert? Auch das erinnerte Karl nicht mehr. Er musste sich setzten und rührte sich für einige Minuten nicht mehr. Es wurde schwarz um ihn. Und dann begann ihn etwas zu stören, wie ein Steinchen, den man im Schuh hat.
Aber aufgeben, dass wollte er nicht! Nur nicht in Finsternis versinken, dann ist alles aus und man ist nur noch wie ein Stück Treibholz im Meer. Auf dem Tagesgeldkonto waren genau 7.032.40 Euro. Das würde er auflösen! Ob das reichen würde? Am liebsten hätte er jetzt das dankbar strahlende Gesicht seines Enkels gesehen, aber er wusste ja nicht einmal, wie er aussieht. Wie alt mochte er sein? Bestimmt kein Kind mehr, obwohl er sich gerade einen kleinen Jungen mit langen blonden Haare vorstellte. Und er schon 89! Was macht die Zeit nur aus dem Leben?
Er fasste sich an den Kopf und da kam ihm der rettende Gedanke: Das Notizbüchlein angebunden am Küchenschrank. Karl blätterte hastig die Seite durch und da stand es schwarz auf weiß: Gustav Hartmann, sein Sohn, mit Telefonnummer und Adresse in Australien. Darunter Helene, seine Schwiegertochter, mit einem Kreuz dahinter. Sie war vor vielen Jahren dahingegangen, etwas später als Karls Frau. Und darunter: Karin. Ja, Karin, ihre Tochter, mit den blonden Haaren! Dann nichts mehr. Kein Sohn? Hatten sie nur eine Tochter?
Karl verstand die Welt nicht mehr. Wer hatte denn angerufen, ihn Opa genannt? Hinter Karin stand in Klammern Kenji Watanabe. Karl versenkte sich in die Vergangenheit, und je mehr er in sie hereinkroch, desto unsicherer wurde er. Ja, Karin hatte einen Japaner geheiratet, war mit ihm nach Japan gegangen, sich aber später scheiden lassen. Die beiden hatten einen Sohn! Jun. Daher die fast helle Knabenstimme? Also hatte nicht sein Enkel, sondern sein Urenkel ihn angerufen? Aber warum stand hinter Jun auch ein kleines Kreuz?
Oder war alles ganz anders? Das Steinchen im Schuh drückte ihn wieder. Was war nur los? Sollte er nicht lieber bei der Caritas anrufen, und Frau – wie war doch noch ihr Name – die Sache vortragen? Er sah schon ihr besorgtes Gesicht vor sich, wenn er ihr erklären würde, dass vielleicht sein Enkel oder aber auch sein Urenkel angerufen hat. Vom ersteren wisse er nichts und der letztere scheint tot zu sein. Trostlosigkeit überfiel ihn.
Nein! Dieses Mal würde er die Angelegenheit alleine regeln. So senil war er ja nun auch wieder nicht. Einer von den Beiden brauchte seine Hilfe! Und an einen Betrug, wie man es ab und zu in der Zeitung las, wollte er absolut nicht glauben. Karl gab sich zehn Minuten, um zu sich zu entspannen. Dann würde er zur Bank gehen, das Geld abheben und dem Bekannten von seinem – ja von wem nur – übergeben. Bestimmt wusste der mehr. Und vielleicht könnte er ihn sogar nach Frankfurt mitnehmen, und das Rätzel wäre gelöst! Das war doch die Lösung! Karl war zufrieden, aber nicht wirklich glücklich.
Nach fünf Minuten nahm Karl einen Zettel und addierte den Girokontobetrag von 680,45 Euro zu dem Betrag vom Tagesgeldkonto von 7.032.40 Euro. Er zog einen dicken Strich unter die Summe, stand auf, holte seine Jacke, zog die Straßenschuhe an und setzte seinen Hut auf. Bevor Karl den Zettel in die Jackentasche steckte, blickte er noch einmal darauf. Seine Hand zitterte, er konnte seine Augen nicht mehr vom Zettel lösen. Nein, es war keineswegs der Betrag, der ihn erschreckte. Es war die Zahl, die er unterstrichen hatte, und die ihm jetzt nicht mehr losließ: 7.712,85. Er setzte sich, nahm den Hut ab, zog die Schuhe wieder aus und ein Koboldslächeln durchzog seinem Gesicht: Nein, SEIN Zug war noch längst nicht abgefahren.
Am 7.7.1285 wurde Tile Kolup hingerichtet, der sich als Kaiser Friedrich II. ausgegeben hatte.
Der Enkeltrick
Der 2. Preis geht an Herbert Feid, 72 Jahre für „Tile Kolup“
Die Magie der Zahlen trotz altersbedingter Vergesslichkeit ist Thema des 2. ausgezeichneten Beitrags des WIR-Schreibwettbewerbs. Ein anonymer junger Mann nutzt den „Enkeltrick“, um einem vergesslichen „Opa“ das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ein gutes Gedächtnis für Daten und berühmten Betrüger hilft dem Helden, mit dem vermeintlichen Enkel fertig zu werden.
Den Enkeltrick kennt Herbert Feid selbst nur aus Erzählungen. 40 Jahre lang hat der kaufmännische Direktor eines Unternehmens für Anlagentechnik in Japan gelebt und gearbeitet. „Dort ist der Enkeltrick viel verbreiteter als hier in Deutschland und es geht um viel höhere Beträge als in meiner Geschichte“, erzählt Herbert Feid bei einem Besuch der WIR-Redaktion. Erst als Rentner fing der Japan-Kenner mit dem Schreiben an. „Ich hatte vorher einfach nie genug Zeit“, erklärt er. Er belegte in der „Schule des Schreibens“ einen Schreibkurs und schrieb einen Roman. 2019 wird „7 Monate mit Mozart“ im Traumtänzerverlag erscheinen. Über den WIR-Schreibwettbewerb hatte er aus dem Kundenmagazin der BVG gelesen und begeisterte sich gleich für das Thema „Ist der Zug schon abgefahren“. „Ich befürchtete, dass die Jury ganz viele Geschichten erhält, wo es um Zugfahrten geht, daher habe ich mich mit Tile Kolup dafür entschieden, das Thema eher im übertragenen Sinne anzugehen“, erklärt er. Dieses Vorhaben hat geklappt: Die Jury zeichnete „Tile Kolup“ mit dem 2. Platz aus.
3. Platz Oliver Fahlenbach
Kajaltränen
„Shit. Das war’s. Wie konnte ich nur so dumm sein? Wieso? Wieso? Wieso? Ich habe es wirklich getan. Alles ist aus. Mein Leben ist vorbei!“, schrie Lynn nervös, während sie wie ein wildes Tier in Gefangenschaft in ihrem kleinen Zimmer auf und ab ging und zu weinen begann.
Bis auf zwei Fingernägel hatte sie ihre French Glitter Nails komplett abgekaut, der Kajal und ihr Make-up vermengten sich mit ihren Tränen. Sie schaute in den Spiegel.
„Alles verschmiert. Ich sehe völlig verheult aus. Das nennt man wohl „Kajaltränen“. Ich glaube nicht, dass der Trend sich durchsetzen wird! Hahaha“, murmelte Lynn vor sich hin, ehe sie anfing, hysterisch zu lachen.
Dann blickte sie auf die Uhr. Die Zeit war knapp. Nur noch drei Minuten. Nein, nur noch zwei. Die Zeit raste, während Lynn auch ihre beiden letzten Nägel abbiss und ihre Fingerkuppen zu bluten begannen.
„Fuck. Nur noch eine. Was mache ich nur?“, schrie sie.
Sie setzte sich vor ihren Laptop und blickte in die Kamera. Es war 19:00 Uhr. Eigentlich hätte nun ihre Show beginnen müssen. Das Mädchen mit den kurzen rötlichen Haaren hatte in der Aufregung vergessen, ihre Echthaar-Extensions anzubringen. Als sie diesen Fauxpas bemerkt hatte, pfefferte sie diese mit voller Wucht auf ihr Bett und warf ihren Laptop wütend auf den Boden.
„So kann ich doch keine Schminktipps geben! Ich muss die Show absagen. 2,7 Millionen Abonnenten… Sie werden mich hassen. Ich habe versagt!“, brabbelte sie vor sich hin.
Plötzlich vibrierte ihr Smartphone.
„Mist! Das ist Babsi! Die wird mir die Hölle heiß machen! Sie löscht mich bestimmt aus ihrer Kundendatei. Sie war schließlich auch gegen dieses Treffen mit Mike.“
Babsi war Lynns neue Managerin, die sich nur um die angesagtesten Youtube-Stars kümmerte.
Lynn drückte den Anruf weg. Dann öffnete sie den Chatverlauf von letzter Nacht und starrte paralysiert auf den Chat mit Mike, in dem ein Video zu sehen war.
„Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe es wirklich gemacht und dann auch noch im Suff abgeschickt?! Meine Karriere ist am Ende! Dabei bin ich doch keine 13 mehr. Amateurfehler! Das durfte mir nicht passieren. Mit 16 ist man in diesem Business doch erwachsen!“, dachte sich Lynn.
Dann erblickte sie die zwei blauen Häkchen hinter dem Video, die auch beim näheren Hinblicken nicht verschwanden. Mehrmals schaltete Lynn ihr Handy an und aus, doch die zwei blauen Häkchen blieben.
„Er hat’s gesehen. Das war’s! Ich bin am Ende. Jetzt hat er mich in der Hand. Er kann mich erpressen, wann er will, und jeder Mensch auf der Welt kann das Video sehen. Jeder! Meine Karriere ist zu Ende.“
Lynn erinnerte sich an die vergangene Nacht. Es war ihr drittes Date mit Mike. Mike hatte sieben Millionen Abonnenten. Aus seinen Let’s Play Videos wusste Lynn ganz genau, dass er sehr unterhaltsam sein konnte. Das erste Date war im Grunde nur ein Geschäftsessen, um ihre Karriere zu pushen, mit vielen Instagrampics und dadurch kaltem Hauptgang inklusive. Aber Mike war in Wirklichkeit noch charmanter als angenommen. Und so kam es, dass sie sich auch ein zweites Mal trafen und bei ihrem dritten Date sogar in eine Bar gingen. Normalerweise trank Lynn keinen Alkohol, nicht mal ein Schlückchen. Das war unprofessionell. Und so kam es, dass sie an diesem Abend bereits nach zwei Cocktails zu lallen anfing. Das letzte, woran Lynn sich erinnern konnte, war, dass Mike sie geküsst hatte.
„Er war ein ausgezeichneter Küsser. Das hat er bestimmt schon öfters gemacht. Er ist schließlich schon 17!“, hatte Lynn sich gedacht.
An das, was danach passierte, konnte sie sich kaum noch erinnern. Nur, dass sie in seine Penthousewohnung verschwanden, wo sie weiter tranken. Doch das Video zeigte ihr ganz genau, was danach geschah.
„Wie verlogen bin ich nur?! Andere Girls habe ich immer vor so etwas gewarnt. Und nun habe ich es selber getan. Ich bin so dumm! Ich habe das eigentlich verdient. `Doppelmoralische Bitch`,“ so werden sie mich alle nennen. Alle, und nicht nur meine Hater!“, malte Lynn sich in Gedanken aus.
Mit einem lachenden Emoji hatte sie versucht, Mike zu kontaktieren, ihn für sich zu gewinnen und ihn davon zu überzeugen, das Video nicht mit anderen zu teilen. Hinter dem Smiley waren zwei blaue Häkchen erschienen, die signalisierten, dass jemand das Video und das Emoji gesehen hatte. Auf Anrufe hatte Mike seit Stunden nicht reagiert. Lynn weinte in ihr Einhornkopfkissen, das sie für ihre Livevideos aus Imagegründen immer in ihrem Kleiderschrank versteckte. Doch an diesem Tag brauchte sie es.
„Warum antwortet er nicht?! Fuck, fuck, fuck!“, brüllte sie aufgeregt, ehe sie ihr Handy anschrie. „Geh ran, du Arsch! Bitte, bitte, bitte geh raaaaaan!“
„Nun hat er mich in der Hand. Er kann so seine Klickzahlen, um mindestens 2,5 Millionen weitere Hits steigern. Jeder würde es so machen! Vielleicht würde ich es auch genauso tun“, dachte sich Lynn.
Plötzlich vibrierte ihr Handy. Lynn sprang erschrocken auf und entfernte sich von dem Bett. Sie hob ihren pinken Laptop, dessen Bildschirm nun einige Risse enthielt, vom Boden auf und schaute sich das berühmte letzte Video von Amanda Todd an.
„Vielleicht bringe ich mich auch um?! Sie werden mich eh alle dissen, sobald das Video online ist. Selbst wenn er es nicht postet, werden Hacker es irgendwann leaken. Das Internet vergisst nie. Schließlich bin ich ja pseudoberühmt. Wie konnte ich nur so blöd sein?“, dachte sich Lynn.
Es klopfte an der Tür. Sie öffnete sich einen Spalt. Lynns Mutter, die im Rollstuhl saß, schaute vorsichtig in das Zimmer. Lynn rannte weinend auf sie zu und setzte sich vorsichtig auf ihren Schoß. Völlig verängstigt zeigte Lynn ihr das Video, während ihre Mutter ihre Stirn küsste und ihren Rücken kraulte.
„Mach‘ dir keine Sorgen. Noch ist nichts verloren. Und selbst wenn das Video online gerät…. Man sieht zum Glück nicht viel. Glaub‘ mir, mich und Anette haben auf der Klassenfahrt alle komplett nackt gesehen, als man uns beim Nacktbaden die Klamotten geklaut hat. Das war ultrapeinlich, aber das Leben geht weiter!“, sagte ihre Mutter in einem besonnenen Ton. „Ich weiß, dass diese Situation anders ist, aber du brauchst diese Millionen Menschen dort draußen alle nicht. Das wirst du auch noch verstehen.“ Sie drückte Lynn ganz feste an sich. „Ich werde nun mit Babsi sprechen und versuchen eine Lösung zu finden. Ich weiß, dass die Situation ganz schlimm ist, aber eine positive Sache hat das Ganze dann doch!“
„Ach ja? Was denn? Dass ich jetzt doch Abitur mache und etwas Vernünftiges lerne, so wie Papa und du es immer wollten?“
„Vielleicht das auch, aber ich meine etwas völlig anderes. So wirst du bald herausfinden, wer zu dir hält und wer deine wahren Freunde sind. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Und deine Familie wird immer zu dir halten. Und mach‘ dir keine Sorgen. Das Video ist wirklich nicht so schlimm, wie du denkst! Sieh mich an! Es gibt im Leben wichtigere Dinge als Follower. Dein Handy nehme ich so lange. Wir essen nun erst einmal.“
Lynns Kopf lief rot an. Sie nickte verständnisvoll.
***
Nach dem Abendessen hatte Lynn gemeinsam mit ihren Eltern eine Entscheidung getroffen. Als sie sich ihr Make-up abgewischt, eine Jogginghose und ihren Lieblingseinhornhoodie angezogen hatte, begab sie sich in an ihren Platz, von dem aus sie immer ihre Videos streamte. Ohne dieses Mal ihre Extensions anzustecken, schaltete sie die Kamera ein und ging live auf Sendung. Sie lächelte verlegen.
„Hallo. Mein Name ist Lynn. Eigentlich heiße ich Evelyn. Vielleicht erkennt ihr mich auch so wieder? Ich habe mehrere große Fehler in meinem jungen Leben gemacht und nun möchte ich dafür gerade stehen. Ich kann und will das alles nicht mehr. Es ist für mich an der Zeit, aussteigen, aber dafür brauche ich heute eure Hilfe…“
Lynn stockte. Ihre Stimme zitterte stark. Sie atmete tief ein und nahm ihren ganzen Mut zusammen, ehe sie fortfuhr und ihre Geschichte zu Ende erzählte.
3. Platz geht an Oliver Fahlenbach, 32 Jahre für „Kajaltränen“
Oliver Fahlenbach ist Lehrer an einer Gesamtschule in Nordrhein Westfalen. „Jeden Tag erfahre ich, was für einen hohen Status das Internet und Social Networks im Leben meiner Schülerinnen und Schüler einnehmen“, erzählt er, „Klickzahlen auf Youtube-Kanälen sind für einige mindestens genauso relevant wie Schulnoten, ihre zweite, virtuelle Identität mehr als ihr Hausaufgabenheft“, so der Lehrer weiter. Von einer virtuellen Identität handelt auch „Kajaltränen“, Oliver Fahlenbachs mit dem 3. Platz ausgezeichneten Beitrag für den WIR-Schreibwettbewerb. Die Gefahr, dass ein kompromittierendes Video die Karriere einer jungen YouTuberin mit Folgen für ihr reales Leben zerstören könnte, inspirierte den Autor zu seinem Beitrag. „Ich spüre ich den Druck der Schülerinnen und Schüler, hohe Klickzahlen zu generieren“, schildert Fahlenbach, „viele meiner Kurzgeschichten oder auch mein erster, als ebook veröffentlichter, dystopischer Roman ‚AIDS. Eine Welt ohne Hilfe‘ handeln von aktuellen Themen, die mich bewegen, sei es die Dominanz des Internets und sozialen Netzwerken oder die Frage, was Menschlichkeit und Nächstenliebe in einer Welt zählen, indem Politiker nur eigene Interessen verfolgen und menschliche Werte in den Hintergrund rücken“, so der Autor weiter.