„Für Barrierefreiheit gilt nicht die Devise ’nice to have’“
Der neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, ist 100 Tage im Amt. In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) wirbt er dafür, dass sich Menschen mit Behinderungen auch stärker in die Politik einbringen können.
KNA: Herr Dusel, Ihre Vorgängerin Verena Bentele hatte als Motto ihrer Amtszeit «Inklusion bewegt». Sie haben «Demokratie braucht Inklusion» gewählt. An welchen Stellen hapert es da für Sie?
Jürgen Dusel: Eine meiner Herzensangelegenheiten ist es aktuell, dass die pauschalen Wahlrechtsausschlüsse gekippt werden, und zwar noch vor der Europawahl im kommenden Jahr. Davon betroffen sind Menschen, die zur Besorgung all ihrer Angelegenheiten einen Betreuer zur Seite gestellt bekommen haben, und schuldunfähige Straftäter, die in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht sind. Für das Land Brandenburg habe ich die Abschaffung der Wahlrechtsausschlüsse als damaliger Landesbeauftragter vorangebracht. Das muss nun auch bundesweit geschehen, wie im Koalitionsvertrag festgehalten. Immerhin geht es hier um 85.000 Menschen.
KNA: Was brauchen wir noch?
Jürgen Dusel: Was ich auch ermöglichen möchte, ist, dass mehr Menschen mit Behinderungen selbst für einen Landtag oder den Bundestag kandidieren oder auch ein anderes Spitzenamt anstreben. Sie sind Experten nicht nur in eigener Sache, sondern bringen wie jeder und jede andere auch Expertise in unterschiedlichen Bereichen mit. Viel zu viele Menschen sind aus ganz verschiedenen Gründen von Teilhabe, insbesondere auch politischer, ausgeschlossen. Das müssen wir dringend ändern, sonst haben wir ein Demokratie-Problem.
KNA: Für viele Menschen scheint eine entsprechende Umsetzung sehr kompliziert zu sein…
Jürgen Dusel: Das Einbeziehen von Menschen mit Behinderungen ist eine Querschnittsaufgabe, die in der Bundesregierung alle Ministerien betrifft. Deshalb ist der Behindertenbeauftragte auch ressortübergreifend tätig. Meine Arbeit berührt Fragen etwa der Gesundheitspolitik, der Wirtschaftspolitik beispielsweise beim digitalen Ausbau, der Bildungspolitik oder auch der Außenpolitik. Barrierefreiheit ist nicht etwas, das ’nice to have‘ ist, es muss selbstverständlich werden, das mitzudenken.
KNA: Zu den Erfolgen Ihrer Vorgängerin gehört das Gleichstellungsgesetz für Behinderte. Danach müssen öffentliche Bauten barrierefrei errichtet werden. Der Wermutstropfen: Private Anbieter wie Arztpraxen oder Kinos brauchen das nicht.
Jürgen Dusel: Ich möchte erreichen, dass da nachgebessert wird und auch private Anbieter verpflichtet werden. Es kann nicht sein, dass es etwa die freie Arztwahl nicht für Menschen mit Behinderungen gibt. Ich halte das sogar unter den derzeitigen gesetzlichen Bestimmungen für hochproblematisch. Dabei berufe ich mich auch auf Artikel 14 des Grundgesetzes, in dem es heißt, dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll. Aber das ist ein dickes Brett, das es zu bohren gilt. Andere Länder wie die USA sind da viel weiter, und es kann niemand ernsthaft behaupten, dass Eigentum in den USA nicht eine hohe Wertschätzung besitzt.
KNA: Ein anderes großes Gesetzespaket, das in der vergangenen Legislatur verabschiedet wurde, ist das Bundesteilhabegesetz. Schon jetzt scheint klar zu sein, dass es Menschen gibt, die jetzt noch Leistungen beziehen, durch die Neuregelungen keine mehr bekommen sollen. Wollen Sie auch da nachsteuern?
Jürgen Dusel: Wenn sich das herausstellen sollte, dann werde ich mich dafür einsetzen, das zu ändern. Es darf durch die Neuregelungen nicht zu Leistungseinschränkungen kommen. Wir wollen aber erst den Abschlussbericht der Evaluierungskommission abwarten, der voraussichtlich bis Ende des Jahres veröffentlicht werden soll.
KNA: Sie wollen sich zudem dafür einsetzen, praktische Hindernisse im Alltag für Menschen mit Behinderungen abzubauen. Woran denken Sie?
Jürgen Dusel: An erster Stelle denke ich an den sozialen Wohnungsbau: Wir brauchen viel mehr barrierefreien und bezahlbaren Wohnraum. Zudem ist es mir wichtig, dass künftig deutlich mehr Kultur- und Wissensmedien, also zum Beispiel Bücher und Zeitungen, für Menschen mit Sehbehinderungen zugänglich sind. Das sind im Moment noch viel zu wenige, nur fünf Prozent der Werke. Dafür müssen zum Beispiel auch die Blindenbüchereien finanziell besser ausgestattet werden. Deutschland hat vor fünf Jahren mit dem Vertrag von Marrakesch ein entsprechendes völkerrechtliches Regelwerk unterzeichnet und sich dazu verpflichtet, dieses umzusetzen. Dazu werden wir im parlamentarischen Verfahren noch einmal aktiv werden.
KNA: Wie sieht es mit der inklusiven Bildung aus?
Jürgen Dusel: Auch hier muss noch viel passieren, wobei mir wichtig ist, dass dazu nicht nur die Schule, sondern auch die Kita, die Universität und der Arbeitsplatz dazugehören. Auch Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf lebenslanges Lernen. Dabei ist wichtig, dass wir bestehende Schwierigkeiten nicht marginalisieren. Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen ist nun einmal sehr heterogen. Wichtig ist, dass wir in der Lage sind, auf die verschiedenen Bedürfnisse bei verschiedenen Formen von Behinderungen gut eingehen zu können. Zum Bereich Schule kann ich für mich sagen: Mir hat es sehr gut getan, dass ich eine ganz normale Schule besuchen konnte. Und auch meine Mitschüler haben davon profitiert, dass dort jemand war, der zwar nicht sehen konnte, aber ganz viele andere Fähigkeiten hat.
KNA: Sie stoßen also nach wie vor auf mangelnde Sensibilität?
Jürgen Dusel: In Brandenburg wurde zum Beispiel ein Marktplatz mit Kopfstein neu gepflastert. Der ist nicht nur für Rollstuhlfahrer schwer zugänglich ist, sondern auch für Menschen mit Rollator oder Kinderwagen. Ich bin mir ganz sicher, dass der Stadtplaner, der den Platz geplant und gebaut hat, anders entschieden hätte, wenn er einen Rollstuhlfahrer in der Klasse gehabt hätte. Für mich ist es deshalb wichtig, dass Menschen mit und ohne Behinderungen möglichst gemeinsam aufwachsen und leben. Wir wissen noch viel zu wenig voneinander. Wenn wir das ändern, sind wird der Inklusion ein großes Stück nähergekommen.