Stellungnahme wegen RISG

Arnd Hellinger – Vorstandsmitglied des Berliner Behindertenverbands – hat einen offenen Brief an den Bundestagspräsidenten Dr. Schäuble und den Petitionsausschuss geschrieben. Grund ist der Referentenentwurf eines „Rehabilitations- und Intensivpflege-Stärkungsgesetzes“ (RISG) von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) . Dieses Schreiben veröffentlichen wir gerne:
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Dr. Schäuble,
sehr geehrte Mitglieder des Petitionsausschusses,
auf den in Kopie beigefügten Schriftwechsel zwischen meiner Person und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Hinblick auf den von diesem am 14.08.2019 veröffentlichten Referentenentwurf eines „Rehabilitations- und Intensivpflege-Stärkungsgesetzes“ (RISG) wird Bezug genommen.
Dem zu Ihrer Kenntnisnahme hier ebenfalls beiliegendem Wortlaut des Referentenentwurfs kann entnommen werden, dass durch das RISG insbesondere zum Zwecke der Missbrauchsbekämpfung im Bereich der häuslichen Intensivpflege ein § 37c SGB V neu geschaffen werden soll. Dieser bestimmt, dass die regelhafte Versorgung von Menschen, welche 24/7 auf Intensiv- sowie Beatmungspflege angewiesen sind, künftig nur noch in stationären Einrichtungen oder „diesen gleichgestellten Wohnformen“ zu erfolgen habe, soweit es sich bei den Betroffenen um Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung handele, Zur meinerseits unverändert bestehenden rechtlichen wie ethischen Kritik hieran wird auf mein Schreiben an Herrn BM Jens Spahn vom 25.08.2019 verwiesen.
Statt nun aber auf die – indes nicht nur von mir – in sachlicher Weise vorgetragene Kritik und Ängste Betroffener bzw. auch derer Angehöriger in angemessener Form einzugehen, beschränkt sich das BMG seit Wochen darauf, diesbezügliche Eingaben mit offensichtlich vorformulierten Standardschreiben zu erwidern, ohne jeweils individuell konkret aufgeworfene Fragen bzw. Bedenken angemessen zu würdigen. So geht das an mich gerichtete Antwortschreiben des BMG vom 23.09.2019 etwa mit keiner Silbe darauf ein, wer nach welchen Kriterien hinkünftig die „Zumutbarkeit“ einer zwangsweise stationären Versorgung beiurteilen soll und welche Mittel Betroffenen ggf. gegen diese Entscheidungen eröffnet werden sollen. Ebensowenig wird ein Sachgrund genannt, Pflegebedürftigen mit Erreichen der Volljährigkeit das Menschenrecht auf Leben in der eigenen Wohnung nehmen zu können. Weiterhin bleibt das BMG eine verbindliche Regelung für all jene Betroffenen schuldig, die nach derzeitigem Stand der medizinischen Wissenschaft weder von Beatmung noch von anderer Intensivpflege jemals werden entwöhnt werden können, weil deren Grunderkrankung (ALS. Muskeldystrophie, Cerebralparese etc.) derlei selbst bei noch so intensivem therapeutischen Bemühen schlicht nicht erlaubt.
Diese Menschen genießen selbstverständlich ebenso das verfassungsmäßig verbriefte Recht auf freie Wahl ihres Wohn-, und Aufenthaltsorts sowie das in Art. 3 III 2 GG normierte Benachteiligungsverbot auf Grund ihrer Behinderung. Hierbei ist es – entgegen der vom BMG mit Schreiben vom 23.09,2019 wiederholt irrig vertretenen Auffassung – auch und gerade mit Blick auf Art 19 und 26 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK)) vollkommen irrelevant, ob eine individuell erforderliche 24/7-Unterstützung nun durch Familienangehörige, angelernte Assistenzpersonen oder Pflegefachkräfte erbracht wird und für welche Tätigkeiten diese im Einzelfall (Beatmung, Nahrungsantrichung, Toilettengang, sonstige Hilfestellung….) konkret erforderlich ist. Sollte das RISG also tatsächlich dem behaupteten Zweck – Verbesserung der Lebens- und Versorgungsqualität Betroffener – dienen, so verfehlen die im Entwurf projektierten Bestimmungen dieses Ziel eindeutig.
Es drängt sich überdies der Eindruck auf, auch das weitere Ziel des Gesetzentwurfs – die Verhinderung von Missbrauch durch Leistungserbringer – könne evtl. nur vorgeschoben sein, um hierdurch Leistungseinschränkungen sowie -verschlechterungen (s. o.) vor dem Hintergrund ökonomischer Erwägungen implementieren zu können. Ansonsten hätte es dem BMG nämlich u. a. auf parkamentarische Anfrage von Corinna Rüffer MdB vom September 2019 hin die behaupteten Missbrauchsfälle durchaus konkret benennen und den hieraus resultierenden finanziellen Schaden für die GKV quantifizieren können, was jedoch bis dato unterblieb. Zudem bleibt der Widerspruch, einerseits Intensivpflege- bzw. Beatmungswohngemeinschaften pauschal der schlechten therapeutisch-pflegerishen Arbeit sowie des Beitragsmissbrauchs zu bezichtigen und sie andererseits neben vollstationären Einrichtungen zur Regelversorgung erklären zu wollen, weiterhin unaufgeklärt. Es wird daher gebeten, im Petitionsverrfahren auch hierzu nachprüfbar Stellung zu nehmen.
Statt also stichhaltige und objektivierbare Gründe für das RISG in seiner geplanten Form zu erfahren, muss man etwa der Presse <<https://kobinet-nachrichten.org/2019/09/19/kritik-nimmt-zu-ministerium-schweigt/>> entnehmen, die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie sowie der Verband pneumologischer Kliniken – die Einrichtungsträger und Leistungserbringer also – hätten sich während der Verbändeanhörung beim BMG am 11.09,2019 vernehmbar damit gebrüstet, „am Entwurf des RISG maßgeblich mitgeschrieben“ zu haben. Sollte sich dies im weiteren Verfahren bewahrheiten, wäre auch nachvollziehbar, warum der vorliegende Gesetzentwurf aussieht, wie er sich gegenwärtig präsentiert und den elementaren Rechten Pflegebedürftiger kaum Bedeutung beimisst. Somit würden hier Anbieterinteressen schon von Beginn der Gesetzgebung an über das Patientenwohl gestellt – kein gutes Zeichen für eine funktionierende Demokratie.
Vor dem Hintergrund obiger Ausführungen wird der Deutsche Bundestag gebeten, dafür Sorge zu tragen oder darauf hinzuwirken, dass
  1. der vorliegende Referentenentwurf für ein RISG zurückgezogen und durch eine grund- sowie menschenrechtskonforme Fassung ersetzt wird,
  2. die Verfahrensregeln für das Erstellen von Referentenentwürfen für Bundesgesetze in der Weise geändert werden, dass in diesem Stadium entweder gar keine oder eben alle vom geplanten Gesetz tangierten Gruppen gleichrangig an dessen Konzeption beteiligt werden und
  3. kritische Eingaben bzw, Stellungnahmen direkt betroffener Menschen an Ministerien sowie sonstige Oberbehörden der Bundesregierung nicht mehr nur mit Standardschreiben, sondern auf deren individuellen Inhalte bezogen beantwortet werden sowie
  4. die oben dargelegten Ungereimtheiten hinsichtlich der Motivation des BMG zur Erarbeitung des RISG-Entwurfs zeitnah Aufklärung finden.
Für Ihre Bemühungen danke ich Ihnen vorab.
 
Mit freundlichen Grüßen
Arnd Hellinger

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