„Es muß Alternativen geben“

Dr. Sigrid Arnade ist Geschäftsführerin des Verbands Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (Kurzform ISL) und seit vielen Jahren Aktivistin für die Rechte behinderter Menschen. Sie ist Mitbegründerin des Deutschen Behindertenrats für den sie an den Verhandlungen zur UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) in New York teilgenommen hat. Mit Sigrid Arnade sprach die BBZ über ihre Ansichten über die Werkstätten für behinderte Menschen (Kurzform WfbM).

BBZ: Die Zahl der Beschäftigten in den WfbM wächst immer weiter. Woran liegt das?

Sigrid Arnade: Meiner Ansicht nach sind dafür eine ganze Reihe von Faktoren verantwortlich: Zum einen schrumpft der Arbeitsmarkt für gering qualifizierte Menschen. Zum anderen sind die Arbeitsbedingungen so stressig geworden, dass immer mehr Menschen dem Druck nicht standhalten können und psychisch krank werden. Des Weiteren ist es sehr bequem für die vermittelnden Behörden, zum Beispiel ganze Klassen einer Förderschule direkt in die Werkstätten zu schicken. Hinzu kommt, dass die Werkstätten ihrem gesetzlich festgeschriebenen Auftrag nicht nachkommen. Sie sind eigentlich dafür da, Menschen für den allgemeinen Arbeitsmarkt fit zu machen. Aber die Übergänge von den Werkstätten auf den Arbeitsmarkt bewegen sich im Promillebereich. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen in die Werkstätten hineinströmen, aber fast niemand hinauskommt.

BBZ: Welche Maßnahmen sollten Ihrer Meinung nach ergriffen werden, um den Übergang von der Werkstatt auf den 1. Arbeitsmarkt zu erleichtern?

Sigrid Arnade: Es bedarf meiner Meinung nach eines ganzen Bündels von Maßnahmen. Für die Werkstätten muss es attraktiv werden, behinderte Beschäftigte auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Das könnte man beispielsweise verwirklichen, indem man feste Übergangsquoten vereinbart und es Bonuszahlungen gibt, wenn diese übererfüllt werden, und Strafzahlungen, wenn sie nicht realisiert werden. Außerdem muss es Alternativen zur Werkstatt geben, die ein vergleichbares Maß an Sicherheit garantieren. Außerdem müsste endlich Schluss sein mit dem Märchen der sicheren Renten nach 20 Jahren Arbeit in einer Werkstatt. Davon haben die wenigsten Beschäftigten etwas, denn in den meisten Fällen wird das Sozialamt die Renten einstreichen. Und es stimmt nicht, dass der Rentenanspruch verloren geht, wenn die behinderten Beschäftigten sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausprobieren.

BBZ: Was sagen Sie Menschen, die behaupten, dass Werkstätten für Menschen mit Behinderung unbedingt notwendig sind?

Sigrid Arnade: Momentan stimme ich zu, weil es kaum Alternativen gibt. Man müsste aber erst andere Modelle ausprobieren, um den Wahrheitsgehalt dieses Satzes überprüfen zu können. Entsprechende Bestrebungen sind derzeit nicht in Sicht.

BBZ: Die Werkstattgehälter sind sehr niedrig. Dahinter scheint ein strukturelles Problem zu stecken. Wie kann man diesem begegnen?

Sigrid Arnade: Wiederum ist es mit einer Maßnahme nicht getan. Die Bilanzen der Werkstätten müssten offengelegt werden. Werkstätten werden mit öffentlichen Geldern gefördert. Warum ist es dann möglich, dass Werkstattleiter*innen und Gruppenleiter*innen sich horrende Löhne auszahlen, während die behinderten Beschäftigten mit Taschengeldern abgespeist werden. Hier fehlt die öffentliche Kontrolle.

Außerdem dürfte es nicht mehr möglich sein, dass Firmen sich von ihrer Beschäftigungspflicht freikaufen, indem sie Aufträge an Werkstätten vergeben. Sie bekommen hochwertige Arbeit für wenig Geld und brauchen keine Ausgleichsabgabe mehr zu bezahlen. Stattdessen müssten Konzerne verpflichtet werden, die behinderten Mitarbeiter*innen von Werkstätten, die für sie notwendige Arbeiten erledigen, in ihre Konzerne zu integrieren und ihnen vernünftige Löhne zu zahlen.

Ein erster Schritt könnte es sein, den behinderten Beschäftigten in Werkstätten mindestens den Mindestlohn zu bezahlen.

BBZ: Wie sehen Sie ihre Rolle bzw. die Rolle der ISL im Rahmen der ganzen Werkstattdebatte?

Sigrid Arnade: Als ISL setzen wir uns für ein selbstbestimmtes Leben für alle behinderten Menschen ein. Ein Grundprinzip der Selbstbestimmung ist es, dass es eine Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen geben muss. Die gibt es für die behinderten Beschäftigten in Werkstätten bislang nicht. Deshalb werden wir nicht müde, die Realisierung von Alternativen einzufordern, damit die Betroffenen wählen können. Wir stimmen auch mit dem UN-Fachausschuss überein, der sofortige Ausstiegsstrategien aus dem Werkstattsystem fordert.

BBZ: Wenn Sie ein Wunsch frei hätten, der eine Sache in der ganzen Werkstattthematik verändern würde, welcher wäre das und wieso?

Sigrid Arnade: Ich wünsche mir einen echten Einstieg in den Ausstieg. Es müsste einen Sozialminister oder eine Sozialministerin geben, die eine Gruppe mit allen Beteiligten zusammenstellt. Dieses Expertgremium müsste Alternativen zur herkömmlichen Werkstatt erdenken und erproben. Dann könnte es vielleicht gelingen, einem inklusiven Arbeitsmarkt, wie er in der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert wird, näherzukommen.

BBZ: Besten Dank für das Interview.

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