Matthias Vernaldi – ein Nachruf
Der Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen und die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung trauern um Matthias Vernaldi, der am 09.03.2020 im Alter von 60 Jahren verstorben ist. Seinen Angehörigen, Freund_Innen und Assistent_Innen gilt unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – dass dies unter allen Umständen auch für Menschen mit Behinderungen gilt, dafür setzte sich Matthias Vernaldi in seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Aktivist für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Aus seiner eigenen Biografie als Mensch mit einer schweren Behinderung, schulischer Erziehung in einem Internat für Körperbehinderte, Kommunarde in der DDR und studierter Theologe waren ihm ein gleichberechtigtes Leben und Selbstbestimmung sowie Schutz vor Gewalt wichtige Werte, die er auch systematisch für Mitmenschen umsetzen wollte. Matthias Vernaldi sah dabei weit über die Bedürfnisse seiner eigenen Betroffenheit hinaus und dachte Inklusion in übergreifenden Kategorien. Kämpferisch, beharrlich, dabei humorvoll und kreativ und offen für alles Menschliche werden wir ihn in Erinnerung behalten.
Menschenfreund und Humanist
Im Landesbeirat waren es bemerkenswerte Momente, wenn Matthias Vernaldi sich zu Wort meldete, aufgrund seiner Lebensweisheit und Intelligenz Diskussionen als eindimensional oder nicht weit genug gehend einordnete, ihnen eine neue Richtung gab und die zentralen Punkte traf. Als spiritus rector stand Matthias Vernaldi für ein Menschenbild, dass sich an Grundsätzen wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität ausrichtet. Mahnend brachte er zuzeiten die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Selektionsmechanismen und Ausgrenzungstendenzen an, um uns einen noch größeren Ansporn zu geben, gemeinsam Haltung zu zeigen bei heutigen Menschenrechtsverstößen. Er war uns in seiner ethischen und warmherzigen Haltung in diesen Diskursen ein Vorbild, sowohl für den Umgang miteinander als auch für die gemeinsamen Positionsbestimmungen und Forderungen an die Gesellschaft.
Keine Kompromisse
Sehr kritisch war Matthias Vernaldi gegenüber jeglichem vordergründigem Etikettieren von Inklusion und Partizipation, auch in dieser Hinsicht haben wir viel von ihm gelernt. Mit großer Energie und Hartnäckigkeit machte sich Matthias Vernaldi daran, behindertenpolitische Ziele wie eine bessere Assistenzregelung umzusetzen und dabei auch in Jahren und Jahrzehnten zu denken. Anspruchsgegner einer inklusiven Welt waren immer wieder erstaunt, wie unnachgiebig Matthias Vernaldi im Landesbeirat oder auch im Namen von Vereinen wie ISL und dem Netzwerk Artikel 3 tiefes Fachwissen mit klaren Forderungen verbinden konnte und auf verbindliche Zusagen drang. Mitunter bekamen Leistungsträger einem halben trockenen Satz mit Verweis auf die gesetzliche Grundlage „vor den Bug“, ergänzt um eine provokante oder ironische Anmerkung, und das Überraschungsmoment war umso größer. Speziell in
diesen Situationen zeichnete Matthias Vernaldi eine doppelte Souveränität aus, denn er konnte sich sowohl von seinen eigenen schlechten Erfahrungen distanzieren als auch praktikable Verbesserungenvorschläge für Politik und Verwaltung daraus ableiten. Ausdauernd und bisweilen obstinat kämpfte Matthias Vernaldi in unzähligen Gremien um die Weichenstellungen für eine gleichberechtigte Teilhabe z.B. in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Pflege, Kultur, Mobilität. Sehr oft war er vor Ort mit dabei, um mit Berollungen, Testungen oder auch Blockaden mit gutem Beispiel voranzugehen. Ziviler Ungehorsam war Teil seines Handlungs-Repertoires, und in seiner Rolle als Anstifter für Inklusion motivierte er viele Menschen zu Wirkung zeigenden Aktionen. Zuletzt hat er den Kampf um ein menschenwürdiges Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG) unterstützt.
Betroffenenbeteiligung war für ihn unabdingbar, aber er wies auch immer darauf hin, dass für eine gleichberechtigte Beteiligung Ressourcen bereitgestellt werden müssen.
Selbstbestimmtes Leben
Als einer der ersten Menschen in Berlin lebte Matthias Vernaldi nach dem Modell der persönlichen Assistenz im Arbeitgebermodell, diese Freiheit bedeutete ihm viel. Er wirkte in vielen Arbeitsgruppen zum Thema LK 32 mit und hat vielen Menschen durch seine Beratung und sein Beispiel Mut gemacht, diesen Weg der eigenständigen Lebensform zu wagen.
Vielfalt von Menschenbildern
Mit dem von ihm gegründeten Verein Sexybilities setzte sich Matthias Vernaldi schon früh für die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen ein, auch unter Zuhilfenahme von Assistenz. Dass Menschen mit diversen sexuellen Identitäten unsere Gesellschaft mitgestalten, war für ihn selbstverständlich, lange bevor das Gendersternchen in Gebrauch kam. Sein Engagement für die Pride Parade oder den Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und viele andere Formate war Ausdruck dieser offenen Haltung, mit der Matthias Vernaldi ein wirksames Zeichen für Diversität auch innerhalb der Menschen mit Behinderungen setzte.
Er wies aber auch auf die Gefahren sexueller Gewalt hin und arbeitete als Delegierter des Landesbeirats im Netzwerk gegen sexuelle Gewalt intensiv an einem Integrierten Maßnahmenplan (IMP). Dass der IMP, der seines Erachtens viele gute Vorschläge enthielt, nie wirklich umgesetzt wurde, hat ihn bis zuletzt frustriert und enttäuscht.
Lebenskünstler
Gutes Essen, Wein, Kultur waren ihm nach Aussagen von Nahestehenden wichtig, mit einem großen Freundeskreis teilte Matthias Vernaldi sein Leben. Er war bildender Künstler und Schriftsteller, zuletzt erschien sein Buch Dezemberfahrt. Berufliche oder sonstige Leistungsfähigkeit war für ihn erkennbar nur eine der Optionen der Lebensgestaltung, und seine Offenheit gegenüber sehr unterschiedlichen Lebensweisen und Lebenszielen war ein großer Gewinn an Perspektive für unser gemeinsames Agieren im Landesbeirat. Matthias Vernaldi lebte gerne und gut, den zunehmenden schweren gesundheitlichen Einschränkungen setzte er viel Lebensmut und sehr viel kreative Energie entgegen, um seine Träume zu leben. Menschen wie Matthias Vernaldi sind Vorbild für uns alle, physische oder umweltbedingte Barrieren konsequent hinter den eigenen Teilhabeanspruch einzuordnen und Wege für erfülltes Leben zu finden. Der Mensch und seine Wünsche sind das Maß der Dinge!
Als Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen und als Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung werden wir Matthias Vernaldi sehr vermissen und uns seiner mit großer Dankbarkeit erinnern. Und wir sind gut beraten, die von ihm bereiteten Wege und Pfade weiter zu gehen.