Ein trockener Neuanfang für Silke

Manche Behinderungen oder chronische Erkrankungen sieht man nicht, bei manchen könnte man etwas wahrnehmen, aber die Menschen schauen lieber weg und die Betroffenen geben es nicht zu, dass sie ein Problem haben oder erkennen es selbst lange Zeit nicht. Es geht um Sucht, speziell um Alkohol. 

Silke Richter (50) aus Potsdam ist Mutter von drei Kindern. Sie hat studiert, viel gearbeitet, sich um die Familie gekümmert, war auch in der Freizeit aktiv und sehr sportlich. Durch den Triathlonsport sind wir uns vor neun Jahren begegnet. Dass Silke gerne feierte, wusste ich, aber nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, dass Alkohol einmal zu einem Problem werden könnte. Bis zum Herbst 2019. Damals fiel mir auf, dass sie nach einem Spaziergang mittags zwei Gläser Wein bestellte, während wir Kaffee oder Apfelsaftschorle tranken. Und dann war da das Zittern beim Trinken. Gesagt habe ich nichts. Etwa zu der Zeit wurde Silke aber von einer Kollegin angesprochen und das war gut so. Die körperliche Abhängigkeit dauerte damals nach ihrer Selbsteinschätzung bereits gut ein Jahr an. Wie fast alle verheimlichte Silke das Trinken und das Bedürfnis nach der Droge Alkohol. Selbst die Kinder, zwei erwachsene Töchter und ein Sohn, der noch daheim lebt, ahnten nichts. Dann dauerte es zum Glück nicht sehr lange, bis sie sich entschloss, etwas zu tun. 

Apfelsaftschorle statt Äppelwoi

Anfang Februar des vergangenen Jahres machte sie einen zehntägigen stationären Entzug, anschließend war sie in der Tagesklinik und begann danach eine Langzeittherapie. Neben diesen medizinisch therapeutischen Maßnahmen änderte Silke auch etwas in ihrem Leben. Ihre Tätigkeit in der Gastronomie gab sie auf und fing mitten im Corona-Sommer an, als Peer in der Bergmann-Klinik zu arbeiten. Als Erfahrungsexpertin kümmerte sie sich dort um andere Betroffene und daneben war sie für die Arbeiterwohlfahrt (AWO) in der Betreuung von Obdachlosen tätig, von denen bekanntlich viele suchtkrank sind oder andere psychische Erkrankungen haben. Der offene Umgang mit der eigenen Situation war für Silke zu diesem Zeitpunkt bereits selbstverständlich und die Hilfe für andere eine sinnvolle Beschäftigung, die auch für sie selbst hilfreich war und ist.  

Durch Corona fiel die Arbeit in der Klinik zeitweise weg und auch die Arbeit mit Obdachlosen ist während der Pandemie aktuell schwierig. Zum Jahresbeginn möchte Silke in einem Projekt für Langzeitarbeitslose bei der AWO weiter machen, in Vollzeit, und das ist neben der Arbeit mit der eigenen Suchtproblematik eine stabilisierende Tätigkeit. Man merkt ihr heute in jedem Gespräch an, das sie ein sehr großes Sendungsbewusstsein hat und die Botschaft verbreitet: „Achtet auf euren Umgang mit Alkohol, nehmt Hinweise auf eine Abhängigkeit ernst und lasst euch, wenn es notwendig ist, helfen.“ Allen anderen empfiehlt sie, nicht wegzusehen, wenn der Alkohol bei Kollegen, Freunden, Angehörigen im Alltag anscheinend nicht mehr fehlen darf. „Sprecht die Person an, fragt sie, ob es sein kann, dass der- oder diejenige gar nicht mehr verzichten kann oder nicht mehr funktioniert ohne Alkohol. Sogenannte Spiegeltrinker fallen lange überhaupt nicht auf.“

Ein großes Problem

In Deutschland geht man von zirka 3 Millionen Menschen mit einer alkoholbezogenen Störung aus, von denen mehr als die Hälfte alle Kriterien einer Abhängigkeit erfüllen. Alkohol ist überall erhältlich, billig und wird von vielen fast alltäglich getrunken. 

Eine Alkoholkrankheit und deren Folgen (organische Schäden, psychische Störungen) oder die Abhängigkeit und suchtspezifischen Persönlichkeitsveränderungen können einen Grad der Behinderung begründen.Silke hat die akute Phase der körperlichen Abhängigkeit schneller als viele andere bewältigt, sie hat keine amtlich anerkannte Behinderung aber das Suchtproblem wird sie ein Leben lang begleiten. Sie hat für sich durch ihre Arbeit mit anderen Betroffenen eine neue Aufgabe gefunden und klärt auch ganz offen über Alkoholabhängigkeit auf, wenn jemand etwas wissen möchte. Auch uns in der Teilhabeberatung (EUTB) beim BBV hat Silke bereits in einem Fall unterstützt. 

Im Behindertenverband spielte das Thema Sucht in den vergangenen Jahren, soweit ich mich erinnern kann, keine Rolle. Höchste Zeit, mal darüber zu schreiben und zu sprechen. Abhängigkeit und Alkohol ist für uns kein Tabu.

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