Selbstbestimmte Teilhabe für Menschen mit Behinderungen

Im Rahmen seiner abschließenden Bemerkungen hat der UN-Fachausschuss im Herbst 2023 zahlreiche Empfehlungen abgegeben, in welchen Bereichen Deutschland als Vertragsstaat der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen die menschenrechtliche Situation behinderter Menschen verbessern muss. Die Umsetzung dieser Empfehlungen muss Leitschnur für weitere politische wie praktische Entwicklungen sein.

Die unterzeichnenden Verbände appellieren an die Abgeordneten des neu gewählten Bundestages und die künftige Bundesregierung, mit Blick auf die Umsetzung und Weiterentwicklung des Bundesteilhabegesetzes insbesondere folgende Aspekte zu berücksichtigen:

1) Der Sicherstellungsauftrag der Träger der Eingliederungshilfe wird im Wesentlichen durch Leistungserbringer umgesetzt. Seine konkrete inhaltliche Ausgestaltung kann spätestens mit der UN-Behindertenrechtskonvention nicht ohne die Mitwirkung von Menschen mit Behinderungen erfolgen. Die rechtlichen Vorgaben nach §§ 123 SGB IX ff sind daher folgerichtig und sinnvoll. Tragfähige Vereinbarungen werden getroffen, wenn Verhandlungen auf Augenhöhe stattfinden. Die Mitwirkung der Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen sind für die Verhandlungen sehr gewinnbringend und wichtig, die Teilnahme allerdings äußerst voraussetzungsvoll. 

Die Interessenvertretungen sind daher rechtlich, finanziell und organisatorisch zu stärken. Sie sind mit einem gleichberechtigten Mitverhandlungs- und Mitbestimmungsrecht auszustatten, § 131 Absatz 2 SGB IX ist entsprechend neu zu formulieren.

2) Das sozialrechtliche Leistungsdreieck hat sich bewährt. Es darf nicht zugunsten des Bestrebens nach mehr Steuerungsmöglichkeiten durch die Leistungsträger eingeschränkt oder aufgegeben werden.

3) Die Bedarfsermittlung ist auf die individuellen Lebensumstände zu fokussieren und muss das Selbstbestimmungsrecht der Leistungsberechtigten, auch in Bezug auf die konkret einzubeziehenden Lebensbereiche, achten. Dies gilt auch für die Ermittlung von Bedarfen, die sich ggf. erst perspektivisch ergeben. Die gegenwärtig zur Verfügung stehenden Instrumente und Verfahren sind so weiterzuentwickeln, dass sie für alle Beteiligten mit geringerem Aufwand zu nutzen und durchzuführen sind. Es ist unbedingt anzustreben, im Zuge der Bemühungen um ihre Vereinfachung, auch einer bundeseinheitlichen Angleichung der Bedarfsermittlungsinstrumente näher zu kommen. Auch im Prozess der Gesamtplanung ist die Rolle der Leistungsberechtigten zu stärken.

4) Insbesondere bei trägerübergreifenden Konstellationen sollte ein individuelles Fallmanagement vorgesehen werden, das dem Leistungsberechtigten verpflichtet ist.

5) Der Umfang der Finanzierung von Eingliederungshilfeleistungen und integrierten pflegerischen Leistungen muss sich am individuellen Bedarf orientieren. Es ist darüber hinaus zentral, mit Blick auf die Kompetenzbereiche der unterschiedlichen Berufsgruppen (Pflegefachkräfte, Heilerziehungspflegende, Assistenzkräfte, etc.) pragmatische und über den Einzelfall hinaus verbindliche Lösungen zu finden, die eine integrierte Leistungserbringung ermöglichen.

6) Anforderungen an den Einsatz von Fach- bzw. Hilfskräften sollten gemeinsam auf Bundesebene formuliert werden. In der Praxis wurden mit (trägerübergreifenden) Springer-Pools zur Vermeidung personeller Engpässe bereits gute Erfahrungen gemacht. 

Die Beschäftigung von Expert*innen mit Erfahrungswissen bzw. EX-IN Genesungsbegleiter*innen ist zu stärken – hier sind (sofern nicht bereits vorhanden) entsprechende Konzepte zu entwickeln – auch mit Blick auf ihre angemessene Vergütung.

7) Gute Unterstützung braucht Zeit. Es ist insofern sinnvoll, die Chancen der Digitalisierung und Nutzung Künstlicher Intelligenz mit Blick auf Bedarfsermittlung, Abrechnung, Dokumentation von Leistungen intensiv zu eruieren. Auch mit der Vereinheitlichung von Verfahren (z.B. Kalkulationsschemata) oder Vergütungssystemen, die die Nutzung von Zeit- oder Geldbudgets zur individuellen Verwendung ermöglichen, sind Vereinfachungen zu erwarten. 

Darüber hinaus sollte intensiv geprüft werden, ob geltende bürokratische Anforderungen tatsächlich zu verbesserten Leistungen führen. Auch im Bereich der Hilfsmittel und digitalen Assistenzsysteme können und sollten Potentiale, die sich im Zuge der Digitalisierung ergeben, stärker in den Blick genommen und genutzt werden. In diesem Zusammenhang ist der Schutz personenbezogener Daten sowie die Barrierefreiheit der entsprechenden Anwendungen sicherzustellen. Für Menschen mit Behinderungen müssen Angebote zur Förderung der Digitalkompetenz zur Verfügung stehen.

8) Die Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität von Leistungen ist insbesondere dann erfolgreich, wenn Leistungsberechtigte, Leistungsträger und Leistungserbringer gemeinsam, konstruktiv und kontinuierlich daran arbeiten. Eine solche Zusammenarbeit bietet gegenüber Prüfungen den Vorteil, dass Problemlagen früher erkannt und partnerschaftlicher behoben werden können. Partizipative Qualitätsentwicklungsverfahren sollten stärker genutzt werden. 

Zu diesem Zweck müssen u.a. die dafür notwendigen Informationen allen Beteiligten in für sie wahrnehmbarer Form zur Verfügung stehen. Für Leistungsberechtigte sind Ergebnisse von Wirtschaftlichkeits- oder Qualitätsprüfungen oft intransparent. Im Sinne einer guten Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten wäre es sinnvoll, auch mit Blick auf die Prüfkriterien mehr Transparenz und Einheitlichkeit zu schaffen.

9) Schiedsstellen nach § 133 SGB IX ermöglichen in strittigen Fällen Einigungen zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern, ohne dass eine gerichtliche Entscheidung nötig wird. Es ist hierbei essenziell, dass sowohl Leistungs- als auch Vergütungsvereinbarungen Gegenstand von Schiedsverfahren sein können, da beide in einem sachlichen Zusammenhang miteinander stehen.

10) Mit der Umstellung auf stärker personenzentrierte Leistungen, die zunehmend nicht mehr gesammelt an einem Ort bzw. in einer Einrichtung, sondern inklusiv im Sozialraum erbracht werden sollen, steigt die Bedeutung regionaler Sozialplanung und der Vernetzung aller Akteure. 

Die Verbände behinderter Menschen, die Verbände der freien Wohlfahrtspflege sowie die Verbände der Leistungserbringer sollten in den Erfahrungsaustausch nach § 94 Abs 5 SGB IX regelhaft einbezogen werden. Es bedarf der Perspektive all dieser Akteure, um die Strukturen der Eingliederungshilfe zu fördern und weiterzuentwickeln.

Über die genannten Punkte hinaus besteht erheblicher Entwicklungsbedarf, um die UN BRK in Deutschland umzusetzen: Dies betrifft unter anderem die Schaffung von Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen und den Ausbau eines inklusiven Bildungs- und Gesundheitssystems. Auch mit Blick auf den Arbeitsmarkt sind zügig weitere Schritte zu gehen, um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Die unterzeichnenden Verbände haben sich zu diesen Fragen an anderer Stelle geäußert.

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