Interview: Was ist das Projekt Selbsthilfe und Migration?

Das Projekt Selbsthilfe und Migration Neukölln wurde 2013 mit dem Ziel gegründet, mehr Menschen mit Migrationsherkunft berlinweit für die Teilnahme und Mitwirkung in Selbsthilfegruppen zu aktivieren und motivieren. Die Vorteile der kulturspezifischen Selbsthilfe sind ganz wesentlich psychologischer und sozialer Natur, haben aber auch alltagspraktische Komponenten: Das Sprechen in der Muttersprache ermöglicht es vielen Menschen, sich authentischer auszudrücken. Soziale und kommunikative Regeln stehen in einem gemeinsamen kulturellen Kontext. Es gibt keine Gefahr von Spannungen oder Unwohlsein aufgrund kultureller Missverständnisse unter Gruppenmitgliedern unterschiedlicher Herkunft. Die Muttersprache als vertrauensbildender Aspekt ist sehr wichtig und die Selbsthilfegruppen brauchen oft eine längere Begleitung in der Gründungsphase. In den Selbsthilfegruppen sind oft Themen, wie Trauma, Ängste und Depressionen für Menschen mit schweren Lebenserlebnissen wie Flucht, Krieg im Vordergrund, aber es gibt auch die bekannten Themen Behinderung, Sucht und chronische Erkrankungen. Einblicke gab Azra Tatarevic in einem Kurzinterview Martin Schultz.

Schultz: Wie kam es zu dem Projekt, wann und warum?

Azra Tatarevic: Ich habe vor 10 Jahren meine SHG „Angst- und Depressionsgruppe für bosnische Frauen“ für traumatisierte Frauen gegründet. Mein Wunsch war es, mir und anderen bosnischen Frauen, die an schweren Traumata leiden, zu helfen. Vor sechs Jahren haben wir ein Chor und eine Tanzgruppe gegründet und treten bei Veranstaltungen auf, um zu zeigen, wie wichtig es für uns ist in einer Selbsthilfegruppe zu sein. Das Selbsthilfe- und Stadtteilzentrum Neukölln hat im Namen des Arbeitskreises „Selbsthilfe und Migration“, SEKIS Berlin und Dank der finanziellen Unterstützung der AOK-Nordost das Projekt Selbsthilfe und Migration gegründet. Seit Februar 2013 beraten und unterstützen meine Kollegin Pervin Tosun (türkisch, zaza und deutsch) und ich (bosnisch, kroatisch, serbisch und deutsch) bei der Gründung und Begleitung neuer Migranten- und Migrantinnengruppen.

Wir haben viele Kontakte und Kooperationen mit Migrationsorganisationen, Moscheen und Vereinen auf kommunaler Ebene. Wir nehmen an öffentlichkeitswirksamen Aktionen und Festen teil, um auf die Möglichkeiten und Chancen der gesundheitlichen und sozialen Selbsthilfe für zugewanderte Menschen aufmerksam zu machen. Es gibt berlinweit über 100 Selbsthilfegruppen für Menschen mit Migrationshintergrund, davon allein 18 im Bezirk Neukölln.Es ist medizinisch nachgewiesen, dass soziale Ungleichheiten Einfluss auf Krankheiten haben. Migration macht nicht zwangsläufig krank, aber die Verarbeitung der Migration ist ein langwieriger Prozess und kostet viel Energie. Migranten sind stärker von Krankheiten betroffen. Migranten und Angehörige sind aufgrund ihrer Sprachprobleme, über das Gesundheitssystem, Vorsorge, Früherkennung, Prävention und Therapie, schlechter informiert.

In unserer Arbeit haben wir viele Zugangsprobleme, da es in den meisten anderen Herkunftsländern keine Selbsthilfegruppen gibt.
Es fehlt in der jeweiligen Muttersprache der Begriff der Selbsthilfe. Auch sind kaum Kenntnisse über die Abläufe, Rahmenbedingungen und schützenden Regeln oder über den allgemeinen Nutzen von Selbsthilfe insgesamt vorhanden. Umso mehr braucht es in der Gruppenarbeit oder zur Gründung einer Selbsthilfegruppe, erfahrene selbsthilfeaktive Menschen mit muttersprachlichen Kenntnissen, die die Bezeichnung Multiplikatorinnen und Multiplikatoren tragen.

Schultz: Was unterscheidet die Gruppen von anderen Selbsthilfegruppen?

Azra Tatarevic: Für die Migranten in einer Selbsthilfegruppe sind nicht nur die Gespräche, sondern auch das gemeinsame Essen, der Gesang, der Tanz und die Themen aus dem alltäglichen Leben wichtig. In manchen Selbsthilfegruppen aus der Gruppenarbeit entwickeln sich Freundschaften und ein besonderes Heimatgefühl. Auch wenn in einer Selbsthilfegruppe mit Migranten gute Deutschkenntnisse vorhanden sind, kann man sich in der Muttersprache bei sehr komplexen oder intimen Themen besser ausdrücken. So öffnet man sich schneller und besser für die Mitarbeit in einer Selbsthilfegruppe. Verschiedene Gruppenformen existieren: Klassische SHG, Frühstücksgruppen, interkulturelle Selbsthilfegruppen, Migrationsorganisationen, sozialkulturelle Anlässe, aktive Sportgruppen.

Schultz: Frau Tatarevic, besten Dank für das Interview.

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