ABiD fordert ein Ende der Ausreden
Nach wie vor können viele Wohnhäuser, Arztpraxen und Kulturveranstaltungen von einer ganzen Reihe von Menschen wegen fehlender Barrierefreiheit nicht genutzt werden. Der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland (ABiD) fordert deshalb eine hundertprozentige Barrierefreiheit.
Das Herunterfahren des gesellschaftlichen Lebens wegen der Coronakrise führte anfangs noch zu einiger Euphorie. Die Menschen standen auf ihren Balkonen und klatschten sich gegenseitig zu. Spontan boten sich Einkäufer aus der Nachbarschaft an, um den in ihrer Bewegungsfreiheit begrenzten Menschen zu helfen. Diese Spontanität gibt es nicht mehr, den Leuten reicht diese wochenlange Isolation. Nicht hingehen können, wo man gerade hinwill, den lieben Verwandten nicht besuchen zu dürfen, wann und wie man will, zu Hause arbeiten zu müssen, wenn die Kinder ständig um einen herumtanzen, das zerrt doch so langsam ganz schön an den Nerven. Aber diese Situation erleben Tausende, Millionen doch tagtäglich und nicht erst seit einigen Wochen.
Für behinderte und mobilitätseingeschränkte Menschen ist es seit Anbeginn erlebter Alltag. Im ländlichen Raum gibt es bestenfalls eine barrierefreie Haltestelle im Ort. Ob der nächste Bus aber barrierefrei ist, weiß kein Mensch. Oder es fahren nur noch Kleinbusse, die entweder für Rollstuhlfahrer ungeeignet sind und auf jeden Fall viel mehr kosten als der normale Linienbus. Ein Facharzttermin zu bekommen, gleicht fast einem Lotteriegewinn. Was nützt dieser Jackpot, wenn die Praxis nicht barrierefrei ist und der Gewinner nicht hinein kann? Die Deutsche Bahn hat trotz neuer Züge mit wagongebundener Einstiegshilfe Probleme mit Rollstuhlfahrern. Die Beispiele ließen sich unendlich fortsetzen.
Und immer haben die Verursacher schnell Argumente zur Hand, die die fehlende Barrierefreiheit rechtfertigen. Da ist nicht genügend Geld vorhanden oder der Denkmalschutz lässt das angeblich nicht zu. Man würde ja gern, aber es müsse eine gesetzliche Grundlage vorhanden sein. Dabei gibt es sie aber seit immerhin elf Jahren. Seit dem 29. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland geltendes Recht. Dort wird die Barrierefreiheit als unabdingbare Voraussetzung von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben definiert und gefordert.
ABiD fordert 100-prozentige Barrierefreiheit
Der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland fordert deshalb von der Bundesregierung und den Ländern und Kommunen eine 100-prozentige Umsetzung der Barrierefreiheit. 100 Prozent Barrierefreiheit in allen Wohnhäusern und Wohnungen. Erste Schritte sind gesetzliche Reglungen in den Bauordnungen von Bund und Ländern, die beim Neubau von Wohnungen und Wohnhäusern ebenso wie beim Neubau von öffentlichen Bauten zu 100 Prozent Barrierefreiheit verpflichten sowie eine Änderung der Arbeitsstättenverordnung.
- 100 Prozent Barrierefreiheit in der gesamten öffentlichen Infrastruktur. Erste Schritte sind die verpflichtende Zertifizierung aller Bauten auf Grundlage des Informations- und Kennzeichnungssystems „Reisen für Alle“ um zu wissen, inwieweit diese Bauten barrierefrei sind bzw. welche Barrieren noch bestehen.
- 100 Prozent Barrierefreiheit bei Arztpraxen. Erste Schritte sollten neben der oben genannten Zertifizierung sein, dass keine neue Arztpraxis oder andere Einrichtung des Gesundheitswesens mehr zugelassen wird, wenn sie nicht barrierefrei ist.
- 100 Prozent Barrierefreiheit im öffentlichen Personennah- und Fernverkehr. Dazu gehören ein Programm zur Schaffung von Barrierefreiheit auf allen Bahnhöfen und mindestens eine barrierefreie Toilette auf jedem Bahnhof. Das Personenbeförderungsgesetz ist dahingehend zu ändern, dass auch im grenzüberschreitenden Linienverkehr sowie bei Gelegenheitsverkehren bei allen Fahrzeugen Barrierefreiheit zu gewährleisten ist. Bei Taxen sollten mindestens 10 Prozent der Fahrzeuge in allen Regionen auch für die Beförderung von Rollstuhlfahrern geeignet sein.
Der ABiD wird diese Ziele 2020 auf verschiedenen Ebenen weiter verfolgen, zum Beispiel durch ein Werkstattgespräch beim Verbandstag am 24.10.2020, die Gestaltung einer eigenen Homepage und die Beteiligung an Petitionen. Auf regionaler Ebene ist es z.B gelungen, das Thema 100 Prozent Barrierefreiheit in der Altmark zu verankern. „Es muss noch einmal stärker formuliert werden, dass wir die Ziele gemeinsam erreichen wollen“, betont ABiD-Vorsitzender Marcus Graubner. „Und da ist die Bundesregierung gefragt: Mit welchen Mitteln erreichen wir das? Werden die Behindertenverbände in die Projektierung und Planung einbezogen?“
Diese großen Ziele werden 2020 nicht vollständig erreicht werden können. „Ob ich das insgesamt noch
erlebe, weiß ich nicht“, erklärt der 53-jährige Graubner, „aber es lohnt sich, jeden Tag dafür zu kämpfen.“