„Ob Jung oder Alt – man hat die gleichen Gefühle“

Die WIR-Redaktion hat in seiner Ausgabe 1/2020 sechs einfühlsame Portraits zum Thema „Selbstbestimmt im Alter“ veröffentlicht, die wir als unbedingt lesenswert erachten. Im kollegialen Einverständnis mit der WIR-Redaktion, den Autoren und dem Fotografen Andi Wieland teilen wir diese Portraits als Serie. Herzlichen Dank an unsere WIR-Kollegen.

Nach oben schauen, nicht nach unten

Die 86-jährige Giesela Kröschel kam vor vielen Jahren als Flüchtling aus dem damaligen Weststernberg, heutiges Polen, nach Berlin. Seit dem 4. Lebensjahr lebt sie mit Kinderlähmung. Nach der Flucht hat die fünfköpfige Familie in einer Kleingartenkolonie gewohnt. Später hat ihr Vater dort ein Grundstück gepachtet. „Und darauf ein Häuschen gebaut.“ Das war eine gute Sache, da Barrierefreiheit von Anfang an berücksichtigt werden konnte.Das Lebensmotto der sympathischen Wahlberlinerin ist: „Immer aufzustreben, nach oben zu gucken und nicht nach unten.“ Und das merkt man ihr auch an. Liebevoll berichtet sie, wie sie erst von ihrer Mutter mit dem Fahrrad zur Schule gebracht wurde. Als diese wieder Arbeit bekam, hat ihre Schwester die- se Aufgabe übernommen. Giesela Kröschel hat 1951 Schneiderin gelernt, aber sich zwanzig Jahre später entschieden, einen Beamtenlehrgang zu machen. Das war natürlich eine große Umstellung, aber für sie eine sehr positive. Zumal sie sich schon als junges Mädchen eher im Büro denn an der Nähmaschine sah.

„Vielleicht bin ich deswegen auch so zufrieden, weil ich so viel erleben konnte.“

Für einen kurzen Arbeitsweg zum Bezirksamt wohnt Giesela Kröschel seit 40 Jahren in Berlin-Kreuzberg. Auf die Frage, ob sich Menschen im Alter jünger fühlen, als sie tatsächlich seien, lacht sie und bejaht. „Also ich muss Ihnen sagen, manchmal denke ich, so albern kann kein Mensch sein, der so alt ist
wie ich. Ich bin manchmal beinahe kindisch.“ Sie erzählt etwas leiser, dass sie seit August eine Hauspflege hat, weil sie sich nicht mehr allein an- und ausziehen kann. Gleichzeitig macht sie aber deutlich, dass sie dadurch viel über sich selbst gelernt hat: das Warten auf den Dienst prüfte ihre Geduld, das Ende der Unabhängigkeit forderte sie auf, für sie mögliche Varianten zu finden, mit denen sie sich abfinden kann.

Giesela Kröschel denkt trotz allem auch an ihre Vergangenheit.

„Ich habe die Flucht durchgemacht und das war beinahe die größte Prüfung in meinem Leben.“ Sie erzählt bewegend von den fünf Tagen, in denen die Familie nicht wusste, ob sie die Nacht unter freiem Himmel überleben würden. „Und danach die ersten Jahre hier in Berlin waren auch schwierig. Ich hatte nicht mal Schuhe. Mein Onkel hat mir welche aus Holz gebaut, denn es gab ja nichts.“ Die politischen Entwicklungen der jetzigen Zeit machen ihr großen Kummer. Sehnsucht nach ihrer alten Heimat hat sie nicht, obwohl sie sich noch an vieles erinnern kann. Ihr Rat an die junge Generation: „Nicht zu anspruchsvoll sein, sondern sich bemühen, selbst anderen weiterzuhelfen. Und eben Hilfe annehmen, wenn sie angeboten wird.

Für ihr weiteres Leben ist Giesela Kröschel wichtig, dass sie neben ihrer aktiven Teilnahme in der Sportgruppe in der Villa Donnersmarck noch ein bisschen verreisen kann. Sie schwärmt besonders vom Seehotel in Rheinsberg. Und weil sie dort fast Stammgast ist, weiß die Belegschaft vor Ort auch, was sie an Hilfsmitteln benötigt. Sie muss es nicht immer wieder sagen. Ihr Freundeskreis gibt Giesela Kröschel viel Lebenskraft. Bekannte ermöglichen ihr, stets dabei zu sein und auch in trickreichen Momenten, wie an einer Treppe, lassen sie sie nicht einfach vor dem Hindernis stehen. „Manchmal denke ich mir: Sind jetzt alle verrückt? Aber es ist so schön. Im Nachhinein würde ich sagen, ein Glück, dass du das alles mitmachen konntest.“

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