„Heute fühle ich mich wohl“

„Der Rückenmarksinfarkt kam plötzlich und die Folgen waren in meinem Fall irreversibel“, so beginnt Ingrid Grolle unser Interview via Videoanruf. Rückenmarksinfarkte sind extrem selten und machen nur ein Prozent aller Infarkte aus. Die Folgen sind Lähmungserscheinungen und gestörtes Temperatur- und Schmerzempfinden. In ca. 70% aller Fälle kommt es zu einer vollständigen Heilung, aber Frau Grolle konnte auch nach der Akutbehandlung in der Charité und sechs Monaten Reha nicht wieder laufen. 

Es passierte am 20. Juli 2012. Damals war Ingrid Grolle Anfang Fünfzig, gerade wieder zurück in Berlin. Sie wollte hier weiter unterrichten, nachdem sie vorher ihren Vater bis zu seinem Tod gepflegt und in Rheine gelebt und gearbeitet hatte. Ingrid Grolle wurde aus ihrem gewohnten Leben gerissen. Das neue Leben im Rollstuhl begann im Februar 2013 mit dem Umzug in einen Seniorenwohnheim, da die alte Wohnung nicht barrierefrei war. Kurze Zeit später konnte Frau Grolle dann glücklicherweise eine barrierefreie Wohnung in Kreuzberg beziehen, in der sie bis heute lebt. Im Spätsommer nach den Ferien, also etwa ein Jahr nach dem Infarkt, sollte der Wiedereinstieg in den geliebten Beruf als Lehrerin erfolgen, aber der gestaltete sich schwieriger als erhofft. Es fand sich keine barrierefreie Grund- oder Förderschule in der näheren Umgebung, in Mitte oder Kreuzberg. „Eine Lehrerin im Rollstuhl ist im Berliner Schulsystem anscheinend nicht vorgesehen, aber ich wollte unbedingt wieder zurück und nicht länger zuhause sitzen“. Schließlich konnte Ingrid Grolle an der Hunsrückschule am Görlitzer Park anfangen, das Gebäude ist bedingt barrierefrei. 

Im Februar 2015 gab es einen gesundheitlichen Rückschlag. Ingrid Grolle musste wieder in die Klinik mit anschließender Reha. Trotz psychotherapeutischer Unterstützung und reduzierter Stundenzahl stellte sich die Frage, ob ein erneuter Einstieg in den Schuldienst überhaupt möglich und sinnvoll wäre. Im Januar 2016 war dann die Entscheidung gefallen. Die Frühpensionierung war für Frau Grolle zunächst eine große Erleichterung. Nach einem halben Jahr jedoch vermisste sie ihren Beruf, der nicht nur Arbeit war, sondern Berufung und Leidenschaft. Also rief sie bei verschiedenen Schulen an und bot ihre Mitarbeit an, tageweise für einige Stunden und überwiegend ehrenamtlich. In der Reinhardswald-Grundschule waren die Bedingungen nicht optimal. Frau Grolle konnte nicht mit dem Rollstuhl ins Lehrerzimmer und es gab keine Toilette, so dass sie auch aus diesem Grund nur wenige Stunden unterrichten konnte. „Ich musste immer sehen, dass ich rechtzeitig nach Hause kam“, beschreibt sie die unzumutbare Situation. 

Endlich angekommen

Erst 2019 fand sie schließlich die Schule, an der sie sich bis heute rundum gut aufgehoben und angekommen fühlt. Die Karlsgarten-Grundschule ist komplett barrierefrei (Aufzug/ Toiletten). Frau Grolle ist als einzige im Rollstuhl ein Teil des Teams. Sie arbeitet an zwei Tagen in der Woche, bis Corona den Schulalltag aller veränderte, nur die Notbetreuung an den Schulen gab es durchgehend. Lesen, ehrenamtliche Nachhilfe geben oder eine Fremdsprache (Arabisch) lernen sind Hobbies, aber ersetzen für Ingrid Grolle nicht die Arbeit in einer Schule. 

Ingrid Grolle ist Mitglied im Berliner Behindertenverband und rief uns vor einigen Wochen an, weil sie durch den Schnee nicht wie gewohnt zur Schule rollen konnte. So kamen wir ins Gespräch über Mobilität, inklusive Taxen, Sonderfahrdienst, ÖPNV in der Stadt. Frau Grolle nutzt alles und in ihrer Freizeit ist sie unternehmungslustig. Mit Freunden treffen, Kino oder Klassik in der Philharmonie. Frau Grolle lässt sich nicht bremsen. „Es wäre nur gut, wenn alle Schulgebäude in Berlin barrierefrei werden, für die Schüler und Lehrer, damit andere nicht dieselben Probleme erleben müssen.“ In dem Interview sprechen wir über die aktuelle Situation an Berliner Grundschulen und Frau Grolle schlägt vor, dazu eine Recherche zu starten, um in einer der nächsten Ausgaben über das Ergebnis zu berichten. Ein guter Vorschlag einer sehr engagierten Frau, die mit ganzem Herzen Lehrerin ist. 

Ingrid Grolle hat sofort nach unserem Gespräch eine Recherche gestartet und zahlreiche Schulen in „ihrer Region“ angerufen. Das Ergebnis: In Mitte/ Kreuzberg/ Neukölln sind aktuell vierzehn von 52 Schulen barrierefrei. Da ist noch viel Raum für Verbesserung, Frau Grolle und wir von der BBZ bleiben an dem Thema dran.

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