Werner Knoblauch: Ein Portrait und Nachruf

„Es geht weiter, Junge“ war Werners Lebensmotto gewesen. Früh hatte er lernen müssen, sich in sein Schicksal zu fügen, nachdem er während seiner Geburt 1949 in einem Neuköllner Hinterhofhaus eine Gehirnblutung erlitten hatte, die seine Muskeln zeitlebens lähmten. 

Obwohl er von seiner Familie sehr beschützt worden war, hatte er oft Benachteiligungen hinnehmen müssen – z.B. als er in der Sonderschule hörte, dass aus Menschen wie ihn sowieso nichts werden könne. Und er war oft von Nachbarkindern als Krüppel abgewiesen worden. Oder Menschen hatten Angst vor ihm – „als ob ich ansteckend wäre,“ beschwerte er sich oft. Werner, der nur mühsam lesen und kaum schreiben gelernt hatte, weil sich seine steifen Hände dafür nicht eigneten, wurde ein Träumer, dem man wenig zutraute. Aber – fast heimlich – lernte er Vieles, als er einen Fernseher bekam und wie ein Schwamm das Leben aufsaugte, das ihm da entgegenströmte. Denn die Mutter war eine ängstliche Frau gewesen, die am liebsten zuhause blieb. Daher war Werner nur wenig unter Menschen gekommen, was er sehr bedauerte. „Wenn meine Eltern einen Bäckerladen gehabt hätten“, meinte er später, „hätten sie viel mehr Kontakte gehabt, und es wäre zuhause lebendiger gewesen.“ 

„Es geht weiter, Junge“ hatte die große Schwester gesagt, als die Mutter gestorben war und man sich nach einer neuen Versorgung für ihn umsehen musste. Die Verwandtschaft fand ein Appartement mit einem Assistenz-Angebot in Charlottenburg. Nun lebte Werner mit 48 Jahren zum ersten Mal allein. Das war nicht einfach, weil er sehr schüchtern war und sich kaum zu sagen traute, was er von seiner Assistenz wollte. Er bekam auch eine pädagogische Betreuung an die Seite gestellt, die ihm ins eigenständige Leben half, ihn auf Ausflügen und Feste begleitete, die er sehr genoss. Er gewann sogar einen Wettbewerb, mit dem aufgezeigt werden sollte, wie barrierevoll die Umwelt für einen Rolli-Fahrer ist. Ja, seit er alleine wohnte, nannte er einen Elektro-Rollstuhl sein eigen. Damit konnte er selbständig unterwegs sein – sogar in der U-Bahn, nachdem er einen Rollstuhlkurs bei der BVG absolviert hatte. 

„Es geht weiter Junge“ ließ sich Werner auf ein T-Shirt drucken (ohne das obligatorische Komma) und trug es mit Stolz als er immer mehr die Welt eroberte und selbstbewusster wurde. Er liebte es, hinauszufahren, Menschen zu beobachten. Und er kam schließlich auf die Idee, Flaschen zu sammeln – nicht, weil er Geld brauchte, nein, er war gut versorgt – er hatte damit einen Job gefunden, quasi als Müllmann, der für Ordnung sorgt und der dafür etwas Geld (also Pfandgeld) bekommt. Deshalb kaufte er mit der pädagogischen Betreuung eine orangefarbene Jacke sowie einen Rucksack für die Rückenlehne seines Rollis und dazu eine große Tasche, die ihm neben seine Hände auf den Rolli-Tisch gelegt wurde, wenn er „zur Arbeit“ fuhr. Am Alexanderplatz überließen die Menschen, die auf einer Parkbank eine Cola oder ein Bier tranken, gerne dem alten Mann mit seinem freundlichen runden Gesicht, das umrahmt war von weißen Haaren und einem weißen Vollbart, ihre leeren Flaschen. Werner steckte sie dann in die Tasche und wenn diese vollgepackt war, rollte er zu dem englischen Fahrradverleih am Fernsehturm. Die Verleiher packten zu- verlässig die Flaschen in den großen Rucksack um, damit Werner die Tasche an den Parkbänken wieder füllen konnte – solange bis der Rucksack voll war. Wenn er dann spät abends nachhause kam, begrüßte er mit einem begeisterten „alle haben mir gegeben“ seine Assistenz, die das gesammelte Tagwerk zum Flaschenautomat brachte, um ihm dann seinen „Lohn“ auszuzahlen. Dieses Geld konnte er eines Tages gut gebrauchen, denn: „Es geht weiter Junge“, sagte eines Tages seine Assistentin Lara, die viele Jahre in London gelebt hatte und die ihn nun zu einer gemeinsamen Reise nach London anfeuerte, weil sie seine Sammelleidenschaft für die doppelstöckigen Londonbusse kannte. 

„Das geht mit dem Rollstuhl doch gar nicht“, entgegnete Werner. Doch die pädagogische Betreuung besorgte Flugtickets für ihn, den Rolli und die Assistentin und dazu ein Hotel mit zwei nebeneinander liegenden Zimmern und so flogen sie für ein Wochenende nach London. Werners Begeisterung war schier grenzenlos. Und so wiederholten sie das Erlebnis im Jahr darauf. Danach schrieben Werner und die pädagogische Betreuung die Reiseerlebnisse auf und schickten sie an die Berliner Behindertenzeitung (BBZ), damit auch andere Behinderte erfahren, wie man mit einem Rollstuhl in die Ferne reisen kann. Das war ansteckend und so flogen im folgenden Jahr drei Rollifahrer mit ihrer Assistenz nach London, sahen die Stadt aus dem Millennium-Riesenrad, besuchten Madam Tussauds, fuhren auf der Themse, kehrten in Pubs ein und vergnügten sich. Werner stellte fest: „Normalerweise reist man in der Jugend und setzt sich im Alter zur Ruhe; bei mir ist es andersherum, also verkehrtrum.“ 

„Es geht weiter Junge“, sagte sich Werner, den das Reisefieber gepackt hatte, und der nun mit der pädagogischen Betreuung die nächste Reise plante, diesmal in die Beatles-Stadt Liverpool, die ihn an alte Sehnsüchte erinnerte: Als Jugendlicher durfte er seine Geschwister in die Discos mit der neuen aufregenden Beatles-Musik nicht begleiten; er konnte ihre Songs nur am Radio hören. Jetzt möchte er auch einmal den Beatles näher kommen. Und so ging die vierte englische Reise in die Hafenstadt mit der berühmten Matthew-Street, in deren Clubs die Beatles aufgetreten waren; dazu kam eine Beatles-Führung in einem Taxi mit einem deutschsprachigen Engländer – so eine individuelle Stadtführung hatte Werner noch nie erlebt – und abends ging es zu dem Lieblingspub von John Lennon. Gäste sahen den Rolli vor dem Haus stehen und kamen heraus, um ihn in den engen, dunklen Pub hinein zu tragen. Werner bestellte ein frisches Guiness und als er im Hintergrund „Blueberry Hill“ hörte – den Song aus den 50-ziger Jahren – begann er zu tanzen, also die Arme in die Luft zu heben und sie im Rhythmus zu bewegen. Gäste sahen es und „tanzten“ mit. Werner brach in Freudentränen aus und seufzte: in England ist man viel besser auf Behinderte eingestellt als in Deutschland. Die Menschen gehen offener und krampfloser mit Behinderten um, sind hilfsbereiter. Hier kann man mit einem Rolli einfach in ein Taxi hineinfahren und muss nicht drei Tage zuvor einen Mobildienst bestellen; die Bürgersteige sind überall abgesenkt. Am liebsten würde er ein halbes Jahr hier bleiben. Zuhause schwärmte er noch lange von Liverpool; aber er wurde auch traurig: „Jetzt habe ich Ähnliches erlebt wie meine Geschwister, aber ich kann es ihnen nicht mehr erzählen, nicht mehr mitreden, denn sie sind alle schon gestorben, die Eltern, die Geschwister und die Cousine.“ 

Die nächste geplante Reise nach Belfast, wo auch eine Art (Berliner) Mauer zwischen Katholiken und Protestanten zu bestaunen ist, musste wegen Corona abgesagt werden. Wie geht es weiter, Junge?“ fragten sich Verwandte und viele AssistentInnen aus den über 20 Jahren Betreuung als sie erfuhren, dass Werner, der sich wegen eines Routineeingriffes ins Krankenhaus begeben hatte, dort mit SarsCov 2 infiziert wurde und schließlich am 24. November 2020 an der Herz-Lungen-Maschine in der Charite mit 71 Jahren starb. 

Und sie stellen sich vor, dass Werner seine verstorbenen Angehörigen im Himmel wiedersieht und ihnen endlich berichten kann, dass er Ähnliches erlebt hat wie sie – nur halt „verkehrtrum“. 

Anmerkung der Redaktion: Liebe BBZ-Leser:innen, am Beispiel von Werner Knobloch sehen Sie, wie wichtig es ist, sich impfen zulassen. Sprechen sie Nachbarn, Freunde und Bekannte an und versuchen sie sie zu überzeugen. Wenn Sie geimpft sind, lassen sie sich bitte boostern – als eine Auffrischungsimpfung geben. Nur so können wir noch mehr Tode vermeiden.

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