Gemeinsames Lernen statt Festhalten an Sonderstrukturen

Inklusion an Schulen heißt, dass alle Kinder und Jugendlichen das Recht auf Bildung ohne Diskriminierung und mit gleichen Chancen haben, egal ob sie eine Behinderung oder einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben oder nicht. Um dieses Recht zu schützen, trat vor etwa 15 Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Kraft. Dort steht festgeschrieben, dass Kinder und Jugendliche nicht aufgrund einer Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Unterricht oder dem Besuch einer weiterführenden Schule ausgeschlossen werden dürfen.  

Mit der Unterzeichnung der UN-BRK hat sich Deutschland verpflichtet, ein inklusives Schulsystem zu schaffen, in dem alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam lernen. Das bedeutet auch, dass Förderschulen, in denen Kinder mit Förderbedarf separat unterrichtet werden, abgebaut werden müssten. Das Festhalten an diesen Doppelstrukturen widerspricht der UN-BRK und dem eigentlichen Konzept der Inklusion. Trotz dieser Verpflichtung ist die Lage an Deutschlands Schulen auch 15 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK „besorgniserregend“, so die Einschätzung des UN-Fachausschusses. Dieser Ausschuss prüft regelmäßig die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland, zuletzt im Herbst 2023.  

Der Ergebnisbericht war eine deutliche Rüge für Deutschland. Insbesondere der nach wie vor hohe Anteil von Schüler:innen mit Förderbedarf in Förderschulen wurde vom Fachausschuss sehr kritisch eingestuft. Zwei Punkte hat er dabei besonders hervorgehoben:  

Es sei ein Irrglaube, dass die Beschulung in Sondereinrichtungen Teil eines inklusiven Bildungssystems sein kann. Es gebe keine einheitliche Strategie zur Umsetzung der schulischen Inklusion in Deutschland, wodurch Fortschritte stark von den einzelnen Bundesländern abhängen. Umso wichtiger ist es, den tatsächlichen Fortschritt und die aktuellen Zahlen zur Inklusion im Schulsystem jenseits von Absichtserklärungen zu betrachten und einzuordnen. Das haben wir in dem Factsheet „Status quo: Inklusion an Deutschlands Schulen“ getan. 

Inklusive Beschulung ist noch nicht der Regelfall  

Eine klare, aber ernüchternde Botschaft des Factsheets: Inklusive Beschulung ist für die meisten Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf in Deutschland nicht die Norm. In den letzten 15 Jahren hat Deutschland es nicht geschafft, ein flächendeckendes inklusives Schulsystem aufzubauen. Im Schuljahr 2022/23 hatten 581.265 Kinder und Jugendliche einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Die Förderquote, also der Anteil der Schüler:innen mit Förderbedarf an allen Schüler:innen, lag bei 7,6 Prozent. 

Das Factsheet zeigt, wie weit Deutschland aktuell noch von einem inklusiven Schulsystem entfernt ist: Die Exklusionsquote, die als zentraler Gradmesser für die Umsetzung der UN-BRK-Ziele gilt, lag für Deutschland bei 4,2 Prozent. Sie beschreibt den Anteil der Schüler:innen an Förderschulen gemessen an allen Schüler:innen. Seit der Unterzeichnung der UN-BRK ist die bundesweite Exklusionsquote um 0,6 Prozentpunkte gesunken.  Mit 55,6 Prozent besuchte mehr als die Hälfte der Schüler:innen mit Förderbedarf eine Förderschule, während 44,4 Prozent an allgemeinen Schulen unterrichtet wurden. Die Bundesländer unterscheiden sich deutlich in ihren Entwicklungen: Die Exklusionsquoten der Länder reichen von 0,7 Prozent in Bremen und 6,4 Prozent in Sachsen-Anhalt. 

Exklusion gefährdet die Chancengleichheit

Die Beschulung von Kindern und Jugendlichen in Förderschulen ist häufig ein Glied in einer sich fortsetzenden Exklusionskette. So können an Förderschulen beispielsweise keine staatlich anerkannten Schulabschlüsse erworben werden. Der Großteil der Schüler:innen mit Förderbedarf verlässt die Schule somit formal gesehen ohne Schulabschluss. Vergleicht man allgemeine Schulen und Förderschulen, so lässt sich feststellen, dass Schüler:innen mit Förderbedarf an allgemeinen Schulen häufiger einen Schulabschluss erzielen als diejenigen an Förderschulen. 

Ohne Schulabschluss haben junge Menschen vor allem schlechtere Startchancen für das Berufsleben. Gerade weil sich die Gemengelage multipler Bildungskrisen aktuell zu verdichten scheint, darf das Ziel Inklusion zu befördern nicht aus den Augen verloren werden. Ohne Fortschritte beim Ausbau eines inklusiven Schulsystems könnte auch das gemeinsame Aufwachsen durch Begegnungen von jungen Menschen mit und ohne Behinderung und die Teilhabe an der Gesellschaft erschwert werden.  

Angesichts der jüngsten Entwicklungen in einzelnen Bundesländern, wo aktuell über eine Stärkung der Förderschulen bei der Einschulung von Kindern mit Förderbedarf diskutiert wird, sollten die Länder eher früher als später abgestimmt vorgehen. Zur Einordnung, Sachsen-Anhalt verzeichnete für das Schuljahr 2022/23 mit 6,4 Prozent sogar die höchste Exklusionsquote im Bundesländervergleich – dementsprechend besucht hier ohnehin ein größerer Anteil der Schüler:innen mit Förderbedarf die Förderschule als in anderen Bundesländern. 

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