Rede beim Jahresempfang des Beauftragten der Bundesregierung
Die BBZ veröffentlicht auszugsweise die Rede der Bundeskanzlerin ab, die sie beim Jahresempfang des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung hielt.
Lieber Herr Dusel, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer und anwesende Gäste,
Der Jahresempfang findet in einer Zeit statt, die gewiss nicht leicht ist. Ich möchte in diesem Moment vor allen Dingen an die entsetzliche Flutkatastrophe vor einem Monat erinnern. Sie forderte so unglaublich viele Opfer, darunter auch Menschen mit Behinderungen. Ich denke, wir alle haben das, was in der Wohneinrichtung in Sinzig passiert ist, als furchtbare Tragödie erlebt. Ich darf sagen, dass mich das auch ganz persönlich tief erschüttert hat. Worte können nicht annähernd das Leid ausdrücken, das so vielen Menschen widerfahren ist. Mein tief empfundenes Beileid gilt allen Angehörigen der Opfer dieser Flutkatastrophe.
In unserem Land leben etwa acht Millionen schwerbehinderte Menschen. Teilhabe ist aber keine Frage von Zahlen. Sie ist keine Frage von Mehrheiten oder Minderheiten. Teilhabe berührt das Grundverständnis unseres Zusammenlebens. Sie betrifft jeden Einzelnen mit seiner unteilbaren Würde als Mensch. Jeder Mensch soll teilhaben können – in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Mit diesem Ziel vor Augen gilt es aber auch, Lern- und Erfahrungsprozesse zu durchlaufen. Denn Inklusion ist mit Sicherheit kein Selbstläufer, sondern dafür muss gearbeitet und geworben werden. Viele von Ihnen wissen vielleicht, dass ich meine Kindheit in der ehemaligen DDRin einem Pfarrhaus neben einer diakonischen Einrichtung verbracht habe, in der Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen betreut wurden. Ich habe mit ihnen viel Zeit verbracht. Aber einige meiner Mitschülerinnen und Mitschüler hatten große Berührungsängste. Das hat mir damals schon gezeigt – damals war noch lange keine Rede von Inklusion –, wie wichtig es ist, nicht allein physische Barrieren abzubauen, sondern eben auch Barrieren in den Köpfen. Dass wir alle selbstverständlich zusammengehören, ob mit oder ohne Behinderung, das sollten wir so früh wie möglich lernen. Daher sollten Menschen, mit welcher Beeinträchtigung auch immer, von Anfang an dazugehören. Sie sollten soweit wie möglich in die gleiche Schule gehen wie andere Kinder und gleiche Freizeiteinrichtungen nutzen. Dann wird es selbstverständlicher, auch in späteren Jahren keine getrennten, sondern gemeinsame Wege zu gehen.
Gelungene Inklusion ist wie so vieles andere natürlich auch eine Frage des Geldes. Das will ich ausdrücklich sagen. Aber von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Frage: Wie begegnen sich Menschen mit und ohne Behinderungen? Dabei kommt es vor allem auf die innere Einstellung an. Gerade auch in dieser Hinsicht war und ist die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention in keiner Weise zu unterschätzen. Sie konnte weltweit neue Impulse in diesem Bereich entfalten, weil sie eben auch ein neues Bewusstsein zu etablieren half. Das gilt als Erstes mit Blick auf Menschenrechte. Die Konvention umfasst Lebensbereiche – vom Recht auf Leben bis zum Recht auf Erholung und Freizeit. Zweitens steht die Konvention für einen Gedankenwechsel von der reinen Fürsorge hin zur Inklusion, also zu gleichberechtigten Chancen der Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Drittens hat sich mit der Konvention das Verständnis von Behinderung grundlegend geändert. Behinderung bedeutet nicht allein, dass jemand etwas nicht kann, etwa mit Blick auf die Fähigkeit zu laufen, zu hören oder zu sehen. Behinderung entsteht gleichermaßen durch Barrieren im Lebensumfeld. Das können Treppen ohne Rampen sein oder Nachrichten ohne Untertitel.
Gewiss, eine Konvention allein schafft noch keine Inklusion. Sie muss in die Alltagspraxis übersetzt und mit Maßnahmen umgesetzt werden. Daran haben wir in Deutschland ja schon vor einiger Zeit gemeinsam mit den betreffenden Verbänden gearbeitet. Das erste Ergebnis war der Nationale Aktionsplan 2011. Dabei ist ein Dauerthema die Teilhabe am Arbeitsleben. Nach wie vor liegt die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen deutlich über der allgemeinen Arbeitslosenquote – trotz der Integrationsfirmen, trotz der Unterstützten Beschäftigung mit individueller Qualifizierung und Berufsbegleitung, trotz des Budgets für Arbeit und für Ausbildung. Das alles hat zwar unverkennbar Fortschritte gebracht, doch im Zuge der Pandemie wurden wir ein ganzes Stück zurückgeworfen. Es mangelt also nicht unbedingt an fehlenden Unterstützungsangeboten. Gleichwohl könnten sie unbürokratischer sein. Auf jeden Fall aber gilt es, immer wieder Arbeitgeber davon zu überzeugen, die Talente und Leistungspotenziale von Menschen mit Behinderungen nicht brachliegen zu lassen. Das ist nicht nur eine soziale Frage, sondern es ist auch wirtschaftlich geboten.
Auch wenn der Übergang aus einer geschützten Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt sehr schwierig ist, gilt es diesen Weg zu ebnen. Ich will keineswegs verkennen, wie wichtig die Werkstätten sind. Viele Beschäftigte wollen in einer geschützten und ihnen vertrauten Umgebung arbeiten. Hier können sie der Wertschätzung ihrer Leistungen sicher sein. Aber – das ist auch die Wahrheit – diese Wertschätzung schlägt sich nicht im Einkommen nieder. Das Werkstattentgelt ist gering, schließlich ist es eine Leistung der Eingliederungshilfe und kein Arbeitslohn. Aber das entspricht eben nicht unbedingt der Produktivität der Beschäftigten. Daher sollten wir uns Gedanken darüber machen, den Werkstattlohn neu zu regeln und die derzeitige Deckelung des Arbeitsförderungsgeldes aufzuheben. Ob in der Arbeit oder in anderen Lebensbereichen – faire Teilhabe erfordert immer auch Barrierefreiheit. Dafür müssen wir auch auf Bundesebene sorgen. Das haben wir zuletzt auch mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz getan. Wir nehmen dabei auch die Privatwirtschaft stärker in die Pflicht. Es werden digitale und technische Barrierefreiheiten vor allem beim Onlinehandel, bei Computern, Smartphones, Geld- und Ticketautomaten gefordert. Die Verbände haben ein umfassendes Verbandsklagerecht bekommen. So können sie die Umsetzung sehr gut kontrollieren.
Eine besondere Herausforderung war und ist natürlich die Coronaviruspandemie. Werkstätten blieben geschlossen. Therapien fielen aus. Freizeitaktivitäten fanden nicht statt. Es gab Besuchsverbote. Es waren sehr schwierige und oft auch sehr einsame Monate, gerade auch für Menschen in Wohneinrichtungen oder Familien mit behinderten Kindern. Die Pandemie hat in verschiedensten Bereichen unserer Gesellschaft und in vielerlei Hinsicht Schwächen und Verbesserungsbedarf aufgedeckt. So werden mittlerweile meine Pressekonferenzen und Podcasts in Gebärdensprache und mit Untertiteln angeboten. Man muss ehrlich sagen: Lang hat‘s gedauert. Das zeigt wieder einmal: Oft sind es vermeintlich kleine Dinge, die für andere große Hürden darstellen – etwa wenn man den Fahrdienst viele Tage vorher anrufen muss, um zum Einkaufen fahren zu können, oder wenn ein Rollstuhlfahrer von einer Kulturveranstaltung wenig mitbekommt, weil andere Zuschauer vor ihm stehen und den Blick auf die Bühne versperren. Menschen mit Behinderungen und ihre Familien, die Sozial- und Wohlfahrtsverbände, die Beschäftigten bei den sozialen Leistungserbringern und die vielen Ehrenamtler wissen, wie viel Kraft und Energie Inklusion im Alltag abverlangt. Umso dankbarer bin ich allen Engagierten für ihren unschätzbaren Einsatz, um Inklusion zu leben, vorzuleben, Beispiele zu setzen und voranzubringen.
Lieber Herr Dusel,… .Danke schön für Ihre Arbeit. Danke schön für die Arbeit all derer, die uns jetzt hier zuhören und die engagiert sind. Es ist ein Prozess, diese UN-BRK umzusetzen. Diese Arbeit wird auch nie abgeschlossen sein, weil sich unsere Gesellschaft ja weiterentwickelt. Wir sind vorangekommen, aber es bleibt noch viel zu tun. Deshalb brauchen wir Sie weiter, Herr Dusel, mit Ihrem Engagement und Sie alle, die Sie sich in diesem Bereich engagieren. Alles Gute und herzlichen Dank, dass ich eingeladen wurde.