Sympathisch, authentisch und erfolgreich
Die Paralympics in Tokio sind Geschichte. Es waren die erwartet anderen Spiele im Zeichen der Corona-Pandemie, mit strengen Hygienevorschriften, ohne Zuschauer und entsprechend weniger Emotionen – dafür aber mit einer erneuten Leistungs-Explosion. Das Team Deutschland Paralympics präsentierte sich in Japan sympathisch und erfolgreich.
Fest steht: Es waren besondere Spiele, sicherlich unvergessliche. Die 134 deutschen Athletinnen und Athleten und drei Guides errangen 43 Medaillen – 13 Mal Gold, 12 Mal Silber und 18 Mal Bronze. Dies bedeutet Platz zwölf im Medaillenspiegel. In Rio landete das deutsche Team 2016 mit 57 Edelmetallen auf Rang sechs. „Aus deutscher Sicht haben wir wie erhofft eine starke zweite Woche erlebt, in der wir zahlreiche Medaillengewinne feiern konnten. Generell ist kein Ende der Leistungsentwicklung im Para Sport in Sicht, das haben auch die vielen Weltrekorde und paralympischen Bestzeiten gezeigt, zu denen auch wir punktuell beigetragen haben. Wir erleben international eine zunehmende Professionalisierung des Para Sports, da haben wir in Deutschland Nachholbedarf“, sagt Chef de Mission Dr. Karl Quade und fügt an: „Darüber hinaus müssen wir die Basis vergrößern und uns mit Blick auf die Nachwuchsförderung durch eine systematische Talentsichtung besser aufstellen, so Quade.
Aufgetrumpft haben Leichtathleten mit insgesamt 15 Medaillen (vier Gold, fünf Silber, sechs Bronze). Felix Streng gewann die Königsdisziplin über 100 Meter nach einem fulminanten Rennen und legte Silber über 200 Meter nach. Lindy Ave setzte zum Abschluss aus deutscher Sicht ein dickes Ausrufezeichen mit Gold in Weltrekordzeit über 400 Meter, zuvor war die 23-Jährige bereits über 100 Meter zu Bronze gesprintet – eine sensationelle wie unerwartete Bilanz. Über die gleiche Ausbeute jubelte auch Johannes Floors, der sich erstmals Paralympics-Sieger in einer Einzeldisziplin (400 Meter) nennen darf und über 100 Meter Bronze gewann. Unangefochten zu Gold flog zum dritten Mal in Folge Weitspringer Markus Rehm mit 8,18 Metern, während Sprinterin Irmgard Bensusan über 100 und 200 Meter jeweils die Zweitschnellste der Welt war und ihre paralympische Medaillensammlung auf fünf aufstockte. Ebenfalls doppelter Medaillengewinner war Léon Schäfer, der im Weitsprung auf Rang zwei landete und
über 100 Meter zu Bronze sprintete.
Für großes Aufsehen sorgten auch die Para Radsportler. Insgesamt jubelte die Nationalmannschaft von Bundestrainer Tobias Bachsteffel auf dem Fuji Speedway über stolze elf Medaillen, hinzu kam Bronze für Denise Schindler auf der Radrennbahn – es war die erste von 539 Entscheidungen der Spiele in Tokio überhaupt. Unvergessen bleibt der 31. August 2021 mit acht deutschen Edelmetallen im Zeitfahren auf der Straße, die Sportschau titulierte es passend als Medaillenhagel. Bei den Straßenrennen folgte ein deutscher Doppelsieg bei den Dreiradfahrerinnen. Erfolgreichste Athletin war Jana Majunke mit Doppel-Gold, Annika Zeyen gewann Gold im Zeitfahren und Silber im Straßenrennen und jubelte damit nach dem Gewinn mit den Rollstuhlbasketballerinnen in London über ihren zweiten Paralympics-Titel in zwei unterschiedlichen Sportarten. Kerstin Brachtendorf verblüffte mit Bronze im Zeitfahren – nur 20 Tage nach einer Operation. Es war ihre erste Medaille bei der dritten Paralympics-Teilnahme. Auch Michael Teuber, der gemeinsam mit Rollstuhlbasketballerin Mareike Miller das Team Deutschland Paralympics bei der Eröffnungsfeier ins Stadion führte, überzeugte bei seiner sechsten Teilnahme. Der Routinier lieferte ein überragendes Zeitfahren und gewann erstmals Paralympics-Bronze nach zuvor fünf Mal Gold und ein Mal Silber – nur gut fünf Sekunden fehlten zum erneuten Titel.
Para Schwimmer*innen holen Doppel-Gold
Sehr zufrieden war die Tischtennis-Mannschaft mit fünf Medaillen. Dies war nicht nur eine Medaille mehr als bei den Spielen in Rio, sondern Valentin Baus vergoldete die Bilanz mit seinem Titel im Einzelwettbewerb gegen den Weltranglistenersten aus China, den er erstmals in seiner Karriere bezwang. „Das war für uns das Sahnehäubchen“, freute sich Bundestrainer Volker Ziegler.
Für Schlagzeilen sorgte auch die Nationalmannschaft im Schwimmen. Acht von zehn Athletinnen und Athleten feierten ihr Paralympics-Debüt, das Medaillen-Trio von Rio 2016 (Maike Naomi Schwarz, Denise Grahl und Torben Schmidtke) war diesmal nicht am Start. Trotzdem setzte das junge Team mehrere Ausrufezeichen, besonders am 1. September: Innerhalb von sechs Minuten gab’s Doppel-Gold für Deutschland. Zunächst schwamm Taliso Engel bei seiner Premiere mit Weltrekord zum Paralympics-Sieg, wenig später jubelte auch Elena Krawzow über ihren ersehnten Titel. Das Duo hat damit das Triple aus EM-, WM- und Paralympics-Gold perfekt gemacht. Zudem freute sich Verena Schott über ihr Dreifach-Bronze, nachdem sie das Podest in Rio mehrfach knapp verpasst hatte.
Das anfängliche Warten auf Gold beendete Para Triathlet Martin Schulz am Morgen des fünften Wettkampftages der Spiele in Tokio und verteidigte souverän seinen Titel von 2016. Die erste Gold-Medaille der deutschen Para Sportschützen seit Athen 2004 gewann mit hauchdünnem Vorsprung Natascha Hiltrop, die noch Silber nachlegte. Der Lohn dafür: Die 29-Jährige trägt die deutsche Fahne bei der Abschlusszeremonie. Edina Müller jubelte sogar über die erste deutsche Goldmedaille bei Paralympics im Para Kanu aller Zeiten – die Sportart gehört erst seit Rio 2016 zum paralympischen Programm, damals gab’s zweimal Silber. Für Müller war es nach dem Titelgewinn mit den Rollstuhlbasketballerinnen 2012 die zweite Goldmedaille. Zudem freute sich Felicia Laberer bei ihrer Premiere über Bronze. Viele Medaillenträume platzten jedoch auch in Tokio, teils in der Kategorie Pleiten, Pech und Pannen. Vico Merklein musste bei seiner Mission Titelverteidigung im Straßenrennen mit einem technischen Defekt aufgeben. Nicole Nicoleitzik wurde mit der drittschnellsten Zeit über 200 Meter disqualifiziert, weil sie in der Kurve auf die Linie getreten war.
Premiere feierten in Tokio mit Para Taekwondo und Para Badminton zwei Sportarten, wobei das Team Deutschland nur im Para Badminton vertreten war. Allerdings verfehlte das deutsche Team die eigenen Erwartungen und blieb ohne Medaille. Frühzeitig verabschieden mussten sich auch drei der vier deutschen Mannschaften – und in allen drei Fällen war es sehr bitter. Pure Enttäuschung herrschte bei den Goalballern. Als heißer Medaillenanwärter gestartet, war das Turnier völlig unerwartet schon nach der Vorrunde beendet. Ebenfalls knapp verpasst haben die deutschen Sitzvolleyballer das Halbfinale. Nach der Vorrunde fehlten bei Sieg- und Satz-Gleichheit in der Endabrechnung nach einigem regeltechnischen Hin und Her sechs Punkte, um es unter die besten vier Teams der Welt zu schaffen. Deutschlands Rollstuhlbasketballer präsentierten sich in der Hammer-Gruppe stark und schafften den Sprung ins Viertelfinale, mussten sich dort in einem packenden Krimi jedoch wie schon in Rio 2016 Spanien knapp geschlagen geben. Hoffnungen auf eine Medaille hatten bis zum Schluss die Rollstuhlbasketballerinnen, die souverän bis ins Halbfinale marschierten, sich dort allerdings den favorisierten Niederländerinnen geschlagen geben mussten. In der Neuauflage des Finals von 2016 verpassten die deutschen Damen gegen die USA Bronze und blieben erstmals seit Athen 2004 ohne Medaille.
Was bleibt noch von den Spielen in Tokio?
Was bleibt noch von diesen Paralympics? In jedem Fall die Erkenntnis, dass das internationale Niveau im Para Sport weiterhin steigt. Einerseits ist das russische Team, wenn auch unter neutraler Flagge, nach dem Ausschluss vor fünf Jahren wieder zurück in der Weltspitze. Andererseits drängen Nationen nach vorne, die in Rio noch kaum eine Rolle gespielt haben. So gewann etwa Aserbaidschan 14 Goldmedaillen und Ungarn sieben, 2016 war es jeweils eine.
„Leistungssportler mit Behinderung sind Leuchttürme unserer Gesellschaft. Sie zeigen, was Menschen zu leisten in der Lage sind. Sie widerlegen, dass Menschen mit Behinderung weniger leisten“, betont DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher. „Unsere Herausforderung in Deutschland können wir aus dem Teilhabebericht der Bundesregierung ableiten mit dem erschreckenden Befund, dass – schon vor der Pandemie – mehr als die Hälfte der Menschen mit Behinderung keinen Sport treibt. Die Paralympics schaffen auch dafür ein Bewusstsein: das Recht auf Teilhabe durch Sport. Verständnis, Akzeptanz, Toleranz und nicht zuletzt Bewunderung verändern die Welt. Den elf Millionen Menschen mit Behinderung in unserem Land wünsche ich, dass sie Lebensfreude durch Sport erleben. Nicht exklusiv, sondern inklusiv“, sagt Beucher, der besonders auch an die Verbände und Vereine appelliert: „Wir brauchen mehr Sportangebote für Menschen mit Behinderung und weniger Barrieren – sowohl mit Blick auf bauliche Barrieren als auch Barrieren in den Köpfen.“
Ein wichtiger Schlüssel, um mehr Menschen mit Behinderung sowie auch die Strukturen des Sports zu erreichen, ist die öffentliche Aufmerksamkeit. Die Medien haben bei diesen Spielen ohne Publikum umso mehr dazu beigetragen, die sportlichen Leistungen der Athletinnen und Athleten sichtbar zu machen. Über Fernsehen, Radio, Zeitung oder die digitalen Medien sind die Erfolge und Emotionen aus Tokio umfangreich nach Deutschland transportiert worden. ARD und ZDF berichteten weit über 60 Stunden, zeigten Goalball, Rollstuhlbasketball oder Para Tischtennis live, kürzten sogar dem Mittagsmagazin 35 Minuten Sendezeit zugunsten des Para Sports und freuten sich über hohe Marktanteile und gute Einschaltquoten – ein Quantensprung.
„Wir haben völlig andere Spiele erlebt, als wir sie bisher kennengelernt haben. Bei den Olympischen und Paralympischen Spielen gab es Corona-Fälle auf niedrigem Niveau. Sie haben sich nicht zu Superspreader-Events entwickelt und wurden verantwortungsvoll sowie mit strengen Hygienerichtlinien ausgerichtet“, sagt Friedhelm Julius Beucher und fügt hinzu: „Beim Rückblick auf Tokio dominieren statt eines Virus die sportlichen Leistungen und das Auftreten unseres Team Deutschland Paralympics: Sympathisch, authentisch und erfolgreich. Neben unglaublichen Leistungen haben wir in Japan beeindruckende Persönlichkeiten mit bewegenden Geschichten erlebt – Corona zum Trotz. Wir haben großartige Werbung für den Para Sport und für Menschen mit Behinderung machen können und hoffen, dass wir das Feuer von Tokio über die Abschlusszeremonie hinaus nachhaltig lodern lassen werden.