Menschen mit Querschnittlähmung – Ein Buch über Lebenswege und Lebenswelten

Bei der Buchpremiere und Ausstellungseröffnung im Mai im Reinickendorfer Fontanehaus erzählt Jessica Lilli Köpcke eine Geschichte. Wie sie auf einem Spaziergang mit ihrer Familie an der Spree ihren Kollegen Arne trifft, der mit dem Handbike zur Arbeit radelt, sie frech rufend überholt, wie sie herumflachsen, plaudernd ein Stück gemeinsam laufen, um sich dann noch über Einzelheiten ihres Buchprojektes auszutauschen. Warum sie diese Geschichte erzählt, statt eine lange Rede zu halten? Weil sie das verdeutlicht, was sich viele Menschen mit Behinderungen wünschen: nämlich eine selbstverständliche Normalität zu leben, in der man sich barrierefrei en passant und auf Augenhöhe begegnen kann. Dass das nicht selbstverständlich ist, liegt zum einen weiterhin an zu vielen baulichen Barrieren im öffentlichen und privaten Raum, zum anderen aber auch an den Barrieren in den Köpfen. Letztere weiter abzubauen haben sich die beiden Herausgeber mit dieser Publikation zum Ziel gesetzt. Und das könnte durchaus gelingen.

Gleich und doch besonders

Mit der Methode des sogenannten „Storytelling“ entwickelten die Professorin Jessica Lilli Köpcke und der Kommunikationsexperte und Fotograf Arne Schöning ihr Forschungsprojekt „para-normal-lifestyle“ und innerhalb von zwei Jahren die Idee, den dort gesammelten Lebensgeschichten von Menschen mit Querschnittlähmung ein Buch zu widmen, in dem die Teilnehmer als Experten in eigener Sache fungieren und in ihrer individuellen Sprache ihre Geschichte erzählen. Diese Berichte von Betroffenen, ihre Alltagserzählungen, ihre Gefühle und ihre Strategien, mit der Querschnittlähmung umzugehen, stehen in diesem Buch gleichberechtigt neben medizinischen Diagnosen und sozialmedizinischen Erkenntnissen. Der Wissenschaftsverlag Kohlhammer ließ sich von der Relevanz dieser Herangehensweise überzeugen und stand dem Autorenteam als professioneller Partner zur Seite.

Theorie und Praxis

Das Buch ist in sechs Teile gegliedert. Neben einer umfangreichen Einführung, die medizinische und gesellschaftspolitische Fakten bündelt, sind das fünf inhaltliche Bereiche zu den Themen Lebenswelten, Liebe und Sexualität, Arbeitsleben, Sport/Abenteuersport und die Wahrnehmung von Querschnittlähmung in der Öffentlichkeit. Vierzehn erzählte Lebenswelten finden sich darunter und eine Reihe aussagekräftiger Fotografien, die die Vielfalt der Lebensläufe und die individuellen Bewältigungsstrategien von Menschen mit erworbener und angeborener Querschnittlähmung dokumentieren.

Fußball und schnelle Autos

Und die Berichte sind allesamt spannend, berührend und mitunter verstörend, wie der von Rennfahrer Achim Freund, der auch nach seinem Unfall weiter Rennen fährt – trotz seiner Lähmung – und erst aufhören kann, als er sich zum zweiten Mal einen Teil seiner Wirbelsäule bricht. Und sie sind voll von Witz und Ironie, wie der Bericht von Fußball-Fan Andreas Nickel, der – wenn er schon selbst nicht mehr spielen kann – sich in den Kopf setzt, so viele Championsleague-Spiele live zu sehen wie möglich und chaotisch, aber immer erfolgreich im Stadion landet. Dass er im Rollstuhl auf Reisen mitunter als Exot wahrgenommen wird, kommentiert er damit, dass der einzige Unterschied zwischen ihm und einem Tourist der sei, dass er immer einen Sitzplatz dabei habe. Viele der erzählten Biografien eint ein Hang zur Ironie, zum kleinen Witz über eine mitunter große und traurige Sache. Das ist eine der Methoden mit einem unabänderlichen Geschehen umzugehen.

Kämpfer und Aufklärer

Eine weitere ist Akzeptanz und der Wunsch, etwas Neues aus und mit der Situation zu gestalten, nicht selten auch, um anderen in einer ähnlichen Situation zu helfen. Deutlich ausgeprägt in der Biographie des berufstätigen Lehrers Jörg Köhler, der mit einer schleichend voranschreitenden Lähmung den Rollstuhl erst selber akzeptieren lernt und dann beginnt mit kämpferischem Selbstvertrauen die Inklusion an seiner und an anderen Schulen voranzutreiben. „Es bringt die jungen Menschen voran, wenn sie sehen, dass Behinderung kein Stoppschild ist“, schreibt er und organisiert „Rolliparcours“, in denen nicht nur Schüler, sondern auch die Lehrer im wahrsten Sinne erfahren, wo Barrieren sind.

Ausstellung und Schulungen

Die Idee, eine Wanderausstellung zum Buch zu konzipieren bot sich allein schon aufgrund der aussagestarken Fotografien von Arne Schöning an. Zudem wollen die Herausgeber das Thema an öffentliche Orte bringen, um ein breites Publikum zu erreichen. So, wie im Reinickendorfer Fontane-Haus, das Bürgeramt, VHS, Musikschule und Mehrzweckgebäude in einem ist und in dem sich Schülergruppen, Seniorenrunden und Durchschnittsbürger die Klinke in die Hand geben. Die Ausstellung wird durch Deutschland reisen und eine weitere Lesung ist im Rahmen von „24 Stunden Neukölln“ schon geplant.

Zudem kann man Köpcke und Schöning zu Workshops und Vorträgen einladen, in denen sie ihr Projekt und das Buch vorstellen, um aufzuklären und weitere Publikationen anzuregen.

Parallelwelten

Denn einen Großteil der Erfahrungen, die Menschen mit einer Querschnittlähmung machen, durchleben auch Menschen mit anderen Erkrankungen, die das eigene Leben plötzlich auf den Kopf stellen und Selbstverständlichkeiten wie Job, Partner, Freunde, Freizeit, Urlaub und Zukunft einer Feuerprobe unterziehen. Wer erkrankt, zumal schwer und dauerhaft, fällt erst mal raus aus dem „normalen“ Alltag. Auf einmal steht man am Rand und sieht zu, wie das Leben parallel zu dem eigenen weiterläuft. Das ist eine massive Erschütterung und ob oder wie gut jemand wieder zurückkommen kann in sein altes, modifiziertes Leben, hängt immer davon ab, wie gut ihn seine Umwelt verstehen kann und auch verstehen will. Dazu müssen in erster Linie Berührungsängste abgebaut werden und eine falsche Scham, die ein Zusammenkommen verhindert.

Die Erzählungen in dem Buch, die Ausstellung und die Webseiten des Projektes können wichtige Brücken bauen und man wünscht nicht nur dem Titel viele Leser und Käufer, sondern auch noch weitere aufgeschlossene Verlage, die ein Buch wie dieses möglich machen.

Weitere Infos, Termine und Veranstaltungshinweise unter:

www.menschen-mit-querschnittlähmung.de

www.para-normal-lifestyle.de

Jessica Lilli Köpcke, Arne Schöning (Hrsg.)

Menschen mit Querschnittlähmung

Lebenswege und Lebenswelten

Kohlhammer 2018

ISBN 978-3-17-033824-1

29,00 Euro

Von: