Selbsthilfe – Die vierte Säule im Gesundheitswesen

Selbsthilfe ist vielfältig. Entgegen der eigentlichen Bedeutung des Begriffs, findet man auf der Seite der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe, der Dachorganisation von über 120 bundesweit aktiven Selbsthilfeorganisationen folgende Definition „Selbsthilfe bedeutet, sich mit Gleichbetroffenen auszutauschen, sich weiterzuhelfen. Selbsthilfe bietet Unterstützung, Beratung und gibt allen chronisch kranken und behinderten Menschen eine starke Stimme nach außen.“ Die nationale Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) definiert etwas genauer: „Gemeinschaftliche Selbsthilfe bedeutet, die eigenen Probleme und deren Lösung selbst in die Hand zu nehmen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten gemeinsam mit anderen Menschen aktiv zu werden“.

Die BBZ will in diesem Jahr in einer Serie die gemeinschaftliche Selbsthilfe in Berlin vorstellen. Aufgrund der Vielzahl von Selbsthilfegruppen und -organisationen werden wir nur einen winzigen Ausschnitt der „Szene“ präsentieren können. In Deutschland gibt es zwischen 70.000 und 100.000 Selbsthilfegruppen mit über 3,5 Mio. Aktiven. Da viele Gruppen sich nicht in Verbänden organisieren, schwanken die Zahlen erheblich und es gibt neben Gesundheitsthemen auch andere Selbsthilfegruppen, in denen sich Menschen treffen, um sich gegenseitig zu unterstützen.

Entstehung der Selbsthilfe

Gesundheitsbezogene Selbsthilfe hat in Deutschland Tradition. Die ersten Selbsthilfezusammenschlüsse entstanden schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beispielsweise das Blaue Kreuz in Deutschland e.V. (gegründet 1885) sowie der Deutsche Allergie- und Asthmabund e.V. (gegründet 1897). Die ersten bis heute sehr bekannten klassischen Gesprächsselbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker (AA) gründeten sich in den USA im Jahr 1936. In Deutschland wurde die Idee durch US-Soldaten Anfang der 50 Jahre aufgegriffen. Einen Aufschwung der Bewegung gab es in den 70er Jahren. Wurden die Gruppen damals noch als „wild gewordene Patientenmeuten“ diffamiert, etablierten sich Selbsthilfegruppen zunehmend. Spätestens 1981 mit der Gründung der DAG Selbsthilfe (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen), war die Idee quasi institutionalisiert. Mitte der 70er Jahre entstand auch die sogenannte Krüppelbewegung und das Jahr 1981 hatte auch für deren Aktivisten eine besondere Bedeutung durch die Proteste gegen das von der UNO ausgerufene Jahr der Behinderten. In dem Jahr wurde dann folgerichtig die DPI (Disabled People´s International) gegründet, ein Netzwerk von nationalen Organisationen oder Vereinigungen von Menschen mit Behinderungen, dessen deutsche Vereinigung die Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben e.V. (ISL) ist, der auch der Berliner Behindertenverband angehört.

Heute ist Selbsthilfe längst ein unverzichtbarer Bestandteil des Gesundheitssystems. Ein früherer Gesundheitsminister bezeichnete sie als vierte Säule neben ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung, Andere Branchenkenner behaupten neben dem stationären und ambulanten und dem öffentlichen Gesundheitssektor. Egal, was der damalige Minister Seehofer genau meinte, die Selbsthilfe ist nicht mehr wegzudenken. Sie ist nicht zuletzt durch das Sozialgesetzbuch (§ 20 h SGB V) fest verankert und die Gesetzliche Krankenversicherung ist danach verpflichtet, einen bestimmten Betrag pro Versicherten in die Förderung der Selbsthilfe zu investieren. Im Jahre 2019 waren das insgesamt zirka 82 Mio. Euro. 

Zum Vergleich: Für Zahnbehandlungen waren es cirka 12 Mrd. Euro. Selbsthilfeorganisationen vertreten öffentlich die Interessen Betroffener und werden auch in Entscheidungen einbezogen. Etwa durch Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss und anderen Gremien (z.B. Landesbehindertenbeirat).

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Wirkungsweise der Selbsthilfe

Wie wirkt Selbsthilfe überhaupt und wie unterscheidet sie sich von professioneller Unterstützung? „Selbsthilfe ist ein ständiges Geben und Nehmen. Es ist nicht wichtig, wie Du kommst, sondern wie Du gehst“. Es geht immer um gegen-/ wechselseitige Unterstützung und Motivation von Betroffenen untereinander, mit dem Ziel einer  Verbesserung der individuellen Lebenssituation. Das ist der Kern und die Idee von gemeinschaftlicher Selbsthilfe in Gruppen, egal ob sich die Menschen im Stuhlkreis treffen und sprechen, gemeinsam kochen, tanzen, malen oder sportlich aktiv sind. Seit einigen Jahren gibt es Selbsthilfe auch online. In der digitalen Welt können sich Betroffene in Chats und Foren austauschen, unabhängig von Zeit und Ort. Wer nachts um Vier aufgrund von Depressionen nicht schlafen kann, findet im Internet einen anderen, dem es ebenso geht und Menschen mit seltenen Erkrankungen oder auf dem Land können nun leichter mit anderen Betroffenen in Kontakt kommen.  

In der Serie werden wir u.a. die Strukturen in Berlin näher betrachten und einige Selbsthilfeorganisationen vorstellen. Dabei kommen in erster Linie die Aktiven zu Wort und stellen sich und ihre Gruppen, Organisationen und Projekte vor.

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