Brief des BBV-Vorstandsmitglieds Arnd Hellinger an den Bundestagspräsidenten

Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Dr. Schäuble,

sehr geehrte Mitglieder des Petitionsausschusses,

vor dem Hintergrund einer möglichen Verknappung intensivmedizinischer Ressourcen infolge der momentanen COVID19-Pandemie veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Intensiv- und Notfallmedizin e. V. (Divi) federführend für weitere med. Fachverbände am 25.03.2020 die hier beigefügten „Ethik-Empfehlungen“, mit denen dem Klinikpersonal Handreichungen zur Auswahl „weiterhin behandlungswürdiger“ Patienten (m/w/d) vermittelt werden sollen. Ärzte (m/w/d) sowie Pflegende erhalten somit entgegen allen Grundsätzen unserer Verfassung (vgl. ebenfalls beiliegende juristische Würdigung) eine Anleitung, Leben gegen Leben aufzurechnen – dies noch dazu auf Basis fachlich kaum haltbarer, teils äußerst subjektiver Kriterien. Schon deshalb sind die Empfehlungen der Divi als rechtswidrig und damit nichtig einzustufen.

Zwar ist nachvollziehbar, dass die Krankehausbeschäftigten – insbesondere nach entsprechenden Medienberichten etwa aus Italien – den Wunsch nach klaren Kriterien für den Fall einer auch im deutschen Gesundheitswesen notwendig werdenden Triage äußern, auch sich um in einer solchen Situation nicht der Gefahr einer Strafverfolgung auszusetzen, doch dürfen dabei diskriminierende Merkmale der Patienten wie

  • Lebensalter,
  • Behinderung bzw, Gebrechlichkeit,
  • neuromuskuläre oder pneumologische Vorerkrankungen,
  • verbleibende statistische Lebenserwartung oder
  • prognostizierte Lebensqualität nach Corona-Behandlung

unter keinen Umständen eine ausschlaggebende Rolle spielen. Leider jedoch werden genau diese Kriterien in den – zumal ohne Beteiligung der Patienten- bzw. Behindertenselbsthilfe erarbeiteten – Divi-Empfehlungen explizit als Entscheidungsgrundlagen genannt. Das vorliegende Papier der Fachgesellschaften muss daher nicht nur als nicht sachgerecht, sondern auch als Angriff auf die Menschenwürde Betroffener abzulehnen.

Es ist eines sozialen und demokratischen Rechtsstaates wie der Bundesrepublik Deutschland mehr als unwürdig, derart weitreichende Fragen nur von privaten Vereinigungen wie den medizinischen Fachgesellschaften ohne jedwede parlamentarische Legitimation im kleinen Kreis erörtern und entscheiden zu lassen. Stattdessen bedarf es hierüber einer breiten gesellschaftlichen Debatte sowie eines entsprechenden Gesetzgebungsverfahrens. Dver Deutsche Bundestag wird daher dringend gebeten, a.) die beiliegenden „Ethik-Empfehlungen“ der Fachgesellschaften für ungültig zu erklären sowie b.) ein diese ersetzendes Gesetzgebungsverfahren unter primär maßgeblicher Beteiligung der Patienten- und Behindertenverbände einzuleiten. Für den Fall einer durch extreme Verknappung medizinischer Ressourcen notwendig werdenden Triage sollten einem solchen Gesetz

  1. der Zeitpunkt der Einlieferung des Patienten,
  2. der akut objektive Gesundheitszustand sowie
  3. eine ggf. vorhandene Patientenverfügung

in dieser Reihung als alleinige und verbindliche Kriterien für Auswahl der weiterhin zu behandelnden Patienten verankert werden. Diese Maßstäbe zeichnen sich neben dem Maximum an Gerechtigkeit auch und gerade durch ihre gute Dokumentierbarkeit für den Fall etwaiger Strafanträge durch Angehörige aus. Ein derartiges „Triage-Gesetz“ hätte weiterhin den Vorzug, unabhängig von der gegenwärtigen Pandemie auch bei zukünftigen medizinischen Großlagen (etwa Naturkatastrophen, Terroranschlägen etc.) unverändert Anwendung finden zu können. Ich darf Sie daher bitten, meinem hier vorgetragenen Anliegen zeitnah zu entsprechen.

Für Ihre Bemühungen danke ich Ihnen vorab.

Mit freundlichen Grüßen

Arnd Hellinger

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