Interview mit Aktivist Raul Krauthausen

Raul Krauthausen ist sowohl Gründer von Sozialhelden als auch Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Dominik Peter sprach mit ihm über Corona und Triage.

Dominik Peter: Was bedeutet Triage eigentlich?

Raul Krauthausen: Triage, das soviel wie ‚sortieren‘ oder ‚auslesen‘ bedeutet, bezeichnet ein Verfahren zur Entscheidung, wer medizinische Hilfeleistungen bekommt. Während normaler Zeiten dient es der schnellen Zuordnung von Patient*innen zu den richtigen medizinischen Ressourcen. Bei unerwartet hohem Aufkommen an Patient*innen, zum Beispiel in Folge von Naturkatastrophen oder Unfällen wird die Triage angewendet, um schnellstmöglich festzustellen, welche*r Patient*in am nötigsten medizinische Hilfe benötigt und in welcher Reihenfolge die Ressourcen verteilt werden.

Problematisch dabei ist die Frage, welche Kriterien man beim „Sortieren“ anwenden sollte. Selbstverständlich dürfen Geschlecht, soziale Herkunft oder Alter keine Rolle spielen – es sollen also nur medizinische Gründe Anwendung finden. Aber schon beim Alter wird es knifflig: Eine medizinische Diagnose ist in Abhängigkeit zum Gesamteindruck der Person bzw. seines Körpers zu bewerten und da ist das Alter ein guter Indikator. Bei einem Unfall oder einer Naturkatastrophe wird oft die Person priorisiert, die eine Versorgung am Dringensten benötigt und gleichzeitig eine reale Chance auf das Überleben hat. Leicht Verletzte brauchen in dieser temporären Ressourcenknappheit (noch) keine Hilfe und jene die ohnehin nur eine kleine Chance aufs Überleben haben sind individuelle Fälle. Genau das ist aber in einer Pandemie anders. Hier handelt es sich nicht um eine begrenzte Zahl von Patient*innen und die Ressourcenknappheit ist nicht temporär oder nur lokal. Im Zweifel sind alle Menschen potentielle Patient*innen. Würde man hier das gleiche Vorgehen wie bei der „klassischen“ Triage anwenden, könnten ganze Bevölkerungsgruppen pauschal unbehandelt bleiben. Und exakt diese Situation haben wir derzeit, wenn rein das Prinzip der sogenannten Erfolgswahrscheinlichkeit von Behandlungen herangezogen wird. Menschen mit Vorerkrankungen, Behinderungen oder ältere Personen könnten so – auch wenn man sie natürlich nicht explizit benennt – aufgrund ihrer niedrigen medizinischen Wahrscheinlichkeit auf erfolgreiche Behandlung gegen Covid 19 von vornherein nicht behandelt werden.

Dominik Peter: Deine ehrliche Meinung zu Triage?

Raul Krauthausen: Grundsätzlich ist Triage zunächst eine Notwendigkeit. Wenn medizinische Ressourcen knapp sind, muss eben ausgewählt werden, wer behandelt wird. Natürlich müssen wir etwas gegen diese Knappheit unternehmen, aber das hilft in der akuten Situation ja nicht weiter. Jetzt in der Pandemie geht es darum sicherzustellen, dass alle Personengruppen die gleiche Chance auf Behandlung erhalten. Die Eigenschaft „Behinderung“ oder „Alter“ dürften nicht zu einem Aussortieren führen. Denn es geht hier nicht mehr nur um die Maximierung von Überlebenden wie bei einem Flugzeugabsturz, sondern es geht am Ende um die Aufrechterhaltung unserer gesellschaftlichen Vielfalt. Sollte eine tödliche Pandemie zu einer flächendeckenden Triage-Situation führen, müssen am Ende chronisch kranke, behinderte und ältere Menschen behandelt und damit überleben. Insofern sind die aktuellen Pläne für eine solche Triage abzulehnen und aus meiner Sicht menschenrechtsfeindlich.

Dominik Peter: Wie wird derzeit gegen Triage seitens der Behindertenbewegung vorgegangen?

Raul Krauthausen: AbilityWatch unterstützt neun Personen mit Behinderung bei einer Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe. Ziel ist es, den Gesetzgeber dazu zu verpflichten, Triage-Situationen gesetzlich zu regeln. Bisher ist es so, dass es keinerlei Regelungen gibt und die Ärzteschaft bzw. ihre Organisationen weitgehend frei in der Ausgestaltung von Kriterien und Prozedere sind. Weitere Organisationen wie der ISL oder BODYS haben sich mittlerweile in das Verfahren eingebracht. Darüberhinaus versuchen wir auch in der Öffentlichkeit darzustellen, dass in der gesamten Corona-Situation bestimmte Gruppen schlicht vergessen wurden. Sie alle leiden unter fehlerhaften Maßnahmen oder erhalten nicht die Hilfe, die sie bräuchten. Das umfasst auch den tief verankerten Ableismus in unserer Gesellschaft, der gerade bei Fragen wie der Triage offensichtlich werden.

Dominik Peter: Welche Alternativen gäbe es denn für Ärzte zur Triage-Einteilung?

Raul Krauthausen: Natürlich können Ärzt*innen zunächst Patient*innen in Regionen verlegen lassen, in denen (noch) keine Ressourcenknappheit herrscht, so wie es im Herbst in Deutschland ja auch der Fall war. Wenn Ärzt*innen tatsächlich aber in eine Triage-Situation geraten, haben sie wenige Alternativen zur Verfügung. Dann geht es darum zu entscheiden, nach welchen Kriterien Patient*innen ausgewählt werden. Und hier haben sie tatsächlich verschiedene Möglichkeiten. Derzeit wird meist die Erfolgswahrscheinlichkeit für Behandlungen ausgewählt. Ein rein medizinisches Kriterium mit all seiner implizierten Diskriminierung, das diejenigen auswählt, die ohnehin die höchste Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Daneben könnte man aber auch das Dringlichkeitsprinzip; das First-Come-first-Serve-Prinzip (wer war zuerst da) oder auch das Zufalls-Prinzip wählen. Aber auch Kombinationen sind denkbar. Genau diese Frage, welches Prinzip wir in einer pandemischen Situation wählen sollten, müssen wir jetzt führen.

Dominik Peter: Triage wurde ja von sogenannten Fachleuten erfunden. Was ist Deine Kritik an der Fachgruppe?

Raul Krauthausen: Die Fachgesellschaften haben eigene Empfehlungen zur Umsetzung der Triage veröffentlicht. Sie wirken in der Realität wie Richtlinien und werden von nahezu allen Ärzt*innen in solchen Situationen befolgt. Diese Empfehlungen sind aber rein aus einem medizinischen Blickwinkel formuliert. Weder werden Patientenvertreter*innen einbezogen, noch Betroffenenverbände. Auch externe Ethiker und Menschenrechtsorganisationen werden von den Fachgesellschaften nicht einbezogen. Es ist wirklich ein elitärer Zirkel, der gerade für Minderheiten potenzielle Todesurteile schreibt. Seit Jahren gibt es zum Glück in der Forschung die Überzeugung zur frühzeitigen und umfänglichen Beteiligung von Betroffenen und Patienten. Leider ist das bei der DIVI und der Ärzteschaft noch nicht angekommen. Sie entscheiden lieber alleine und möglichst ohne öffentliche Debatte. Dabei ist genau dies jetzt so wichtig.

Dominik Peter: Raul, Danke für das Interview.

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Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projekts „Fit in Medien“ veröffentlicht.

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