Ein Meilenstein für Inklusion in Berlin
Angekommen im Herzen der Politik: Am 3. Dezember, dem Welttag der Menschen mit Behinderungen, fand das Berliner Behindertenparlament zum ersten Mal im Abgeordnetenhaus statt.
Für Christian Specht ging ein lang gehegter Traum in Erfüllung: „Ich freue mich, dass wir endlich im Abgeordnetenhaus sind.“ Anfangs noch belächelt, hat der Selbstvertreter im Vorstand der Lebenshilfe Berlin hartnäckig für seine Idee gekämpft und zielstrebig Mitstreiter:innen in Politik und Verbänden für seine Idee gewonnen. Jetzt saß er als Präsident des Behindertenparlaments im Plenarsaal des Berliner Abgeordnetenhauses, die Präsidiumskolleg:innen Gerlinde Bendzuck, Vorsitzende der Landesvereinigung Selbsthilfe, und Dominik Peter, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin, souverän an seiner Seite.
„Wir schreiben Geschichte.“
Mit einer bewegenden und richtungsweisenden Rede begrüßte Dennis Buchner, der Präsident des Abgeordnetenhauses, die 100 Teilnehmer:innen. „Wir schreiben hier Geschichte“, sagte Buchner, „dieser Tag ist ein Meilenstein für Inklusion in Berlin und die Geschichte dieses Hauses. Er ist ein Zeichen des Wandels, ein lebendiges Symbol, dass die Menschenwürde unantastbar ist. Jeder Mensch hat individuelle Bedürfnisse. Politisches Handeln muss sich an Menschen mit Behinderungen ausrichten. Zuhören müssen diejenigen, die die Macht haben, Barrieren abzubauen. Das sind allen voran wir Politikerinnen und Politiker.“
Inklusion geht alle an!
Die Politiker:innen auf der Senatsbank hörten nicht nur zu, sondern standen in der Fragestunde Rede und Antwort. Vertreten waren die Ressorts Arbeit und Soziales mit Senatorin Katja Kipping, Verkehr mit Senatorin Bettina Jarasch, Gesundheit mit Senatorin Ulrike Gote, Bildung mit Staatssekretär Aziz Bozkurt, Bauen und Wohnen mit Staatssekretär Christian Gaebler und Wirtschaft und Energie mit Vera Philipps (Büroleiterin des Senators). Ein klares Zeichen, dass Inklusion auch von der Politik zunehmend als Querschnittsaufgabe verstanden wird. Zum Beispiel soll es zum Thema Mobilitätskonzept einen Runden Tisch mit Vertreter:innen verschiedener Senatsverwaltungen und Menschen mit Behinderung als Expert:innen in eigener Sache geben. Einige Nachrichten klangen hoffnungsvoll, z.B. dass die Tarifentlohnung für Assistenzleistungen in der Pflege gesichert ist und der Partizipationsfonds im ersten Quartal 2023 zur Verfügung stehen soll.
Auch wenn es in Berlin noch zahlreiche Baustellen im Bereich der Barrierefreiheit und Inklusion gibt, verlief die Fragestunde in sachlicher und konstruktiver Atmosphäre. Ein guter Start, um in einen kontinuierlichen und nachhaltigen Dialog mit der Politik zu kommen. Im Mittelpunkt der anschließenden Aktuellen Stunde stand die Teilhabe im Energiesparwinter. Teilweise online zugeschaltet, berichteten Betroffene über erschütternde Auswirkungen. „In Not- und Katastrophenfällen können Menschen mit Behinderung schnell in lebensgefährliche Situationen geraten – zum Beispiel wenn der Strom für Beatmungsgeräte ausfällt“, mahnte die Landesbehindertenbeauftragte Christine Braunert-Rümenapf.
Nichts über uns ohne uns
Im zweiten Teil des Parlaments kamen die unter breiter Beteiligung in sieben Fokusgruppen erarbeiteten Anträge zur Abstimmung. Die Vielfalt an Themen und Anträgen ist ein Spiegel der großen Bandbreite an Behinderungsformen und der Vielzahl an Problemlagen.
Der erste Antrag fordert die Aufstockung des Partizipationsfonds von 250.000 € in 2023 auf eine Million Euro und die Schaffung einer Teilhabeakademie, die ehrenamtliche Selbstvertreter:innen schult, sich im Politikbetrieb engagieren zu können. In einem weiteren Antrag wird der Senat aufgefordert, einen Aktionsplan Medien, Kunst und Kultur zu entwickeln, um den umfassenden barrierefreien Zugang zu Informationen zu sichern und Menschen mit Behinderung in der Öffentlichkeit stärker sichtbar zu machen. Darin steckt die Forderung nach einem Dolmetscher:innen-Pool für Gebärdensprache und Leichte Sprache sowie eine Vertretung der Menschen mit Behinderung im rbb-Rundfunkrat. In weiteren Anträgen ging es z.B. um Inklusion im Arbeitsleben, barrierefreie Taxis und Arztpraxen, mehr barrierefreien Wohnraum, Inklusion in Schulen, den Gewaltschutz für Frauen. Alle 17 Anträge wurden mit überwältigender Mehrheit angenommen.
Nur gemeinsam sind wir stark
Die Stärke des Behindertenparlaments ist, dass Selbsthilfe hier jenseits von Einzelinteressen geschlossen an einem Strang zieht und mit einer Stimme spricht. Es ist ein Gesamtkunstwerk, an dem viele Menschen, darunter 200 Ehrenamtliche, in insgesamt 5.000 Arbeitsstunden mitgewirkt haben. Federführend in der Organisation waren der Berliner Behindertenverband, die Landesvereinigung Selbsthilfe, die Landeszentrale für Politische Bildung, die Lebenshilfe Berlin und der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin, der auch maßgeblich zur Finanzierung beigetragen hat. Die behindertenpolitischen Sprecher:innen im Abgeordnetenhaus begleiteten das Parlament von Anfang an.
Vor allem ist das Behindertenparlament ein Prozess, in dem alle Beteiligten Lernende sind. Sie bringen ihre Perspektiven ein und tragen dazu bei, Berlin zu einer Stadt für alle zu machen. Jetzt gilt es, das Behindertenparlament dauerhaft als Sprachrohr der Menschen mit Behinderung in Berlin an der Schnittstelle zur Politik zu etablieren und über den Partizipationsfonds finanziell abzusichern. In der letzten Abstimmung sprach sich das Behindertenparlament einstimmig für eine Wiederholung im nächsten Jahr aus!