Koordinierte Hilfe für Erwachsene mit Mehrfachbehinderungen

Eine 25jährige kann seit ihrer Geburt weder Arme noch Beine bewegen. Tetraspastik heißt die Lähmung aller vier Gliedmaßen. Zusätzlich leidet sie unter Schlafproblemen. Mehrere Medikamente hat sie schon ausprobiert – vergeblich. Ihr Hausarzt und ein Neurologe wissen nicht weiter. Sie überweisen an ein „Medizinisches Behandlungszentrum für Erwachsene mit Behinderungen“ (MZEB). 

Die junge Frau und ihre Eltern landen im MZEB Berlin-Nord. Dessen Ärztlicher Leiter, PD Dr. med. Nils Freundlieb, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, beginnt mit einer detaillierten Ursachenforschung. „Ich habe dafür Zeit: nicht wie normale Praxen drei bis acht Minuten Sprechzeit. Allein das Erstgespräch darf zwei Stunden dauern.“ Er findet heraus: Angefangen haben die Schlafstörungen, als ihr Vater einen Herzinfarkt erlitt und länger im Krankenhaus lag. Zuvor hatte er seine Tochter, sobald sie nachts röchelte, im Bett umgelagert. So konnte sie weiterschlafen. Das Schlafprotokoll des Vaters zeigt nun, er selbst kann deswegen jede Nacht höchstens 45 Minuten am Stück schlafen. Seit vielen Jahren. Die Mutter schafft nicht, die erwachsene Tochter zu drehen. Die Eltern sind am Ende ihrer Kräfte. Dr. Freundlieb diagnostiziert. „Das Problem der Patientin ist nicht die Schlafstörung, sondern ihre Bewegungsunfähigkeit.“ Schlaftabletten sind keine Lösung.

Das MZEB Berlin-Nord ist seit zwei Jahren ein Anlaufpunkt für Erwachsene mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung. Dessen Gründung hatte der Bundestag möglich gemacht. Denn wenn Menschen mit Behinderungen 18 wurden, fehlte eine koordinierte Gesundheitsversorgung Inzwischen arbeiten in Berlin drei MZEB. Zwei sind Mitglied beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin. Dessen Vorstandsvorsitzender, Dominik Peter, erkundigt sich, wie es läuft. Er selbst sitzt seit einem Unfall vor 24 Jahren im Rollstuhl. Er sei ein vergleichsweise „leichter Fall“, sagt Peter. Doch er erlebe etliche Defizite im Gesundheitssystem. „Die Mehrzahl der Berliner Arztpraxen ist nicht barrierefrei. Für mich ist zum Beispiel schwierig, auf den Zahnarztstuhl zu kommen.“ Besonders schwer haben es Frauen im Rollstuhl, sich beim Frauenarzt auf den Behandlungsstuhl zu setzen. Manche Menschen mit geistigen Einschränkungen könnten beispielsweise im Wartezimmer laut werden. Auch das überfordert normale Arztpraxen. „Es wurde höchste Zeit für diese Zentren“, so Peter.

Die MZEB bauen derzeit Netzwerke auf, um Patienten mit Mehrfachbehinderungen geeignete Praxen zu empfehlen. Vor allem aber geht es darum, hier eine „Diagnose aus einer Hand“ zu erstellen. Dadurch lassen sich die Medikamente massiv reduzieren. Der sinnvollste Behandlungsplan wird entwickelt. Es sind mehr Laboruntersuchungen oder Physiotherapien finanziell abgedeckt. Außerdem bleibt den Betroffenen oft die Einweisung ins Krankenhaus erspart. Das MZEB Berlin-Nord der GIB-Stiftung bezog im Oktober einen Neubau in der Germanenstraße 33 in Berlin-Niederschönhausen. Hier arbeiten vier Fachärzte mit Psychologen, einer Krankenschwester und einer Sozialarbeiterin zusammen. Als Team können sie besonders effektiv helfen. „Dank medizinischer Fortschritte überleben Menschen mit Mehrfachbehinderung länger als früher“, erklärt Erik Boehlke. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie kümmert sich seit 50 Jahren um Menschen mit schwersten Verhaltensauffälligkeiten. „Auf die höhere Lebenserwartung muss das Gesundheitswesen reagieren.“

Im Fall der 25jährigen mit Schlafproblemen hat das Team eine Lösung gefunden, freut sich Dr. Freundlieb. Sie hat nun einen Platz in einer Pflegeeinrichtung, mit einer Schlafüberwachung und einem Spezialbett, das die Patientin automatisch umlagert. „Der jungen Frau geht es inzwischen besser. Und ihren Eltern auch.“

Mehn Informationen finden Sie unter www.mzeb-nord.de

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